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In Kapitel C1 wurden wichtige methodische Unterschiede zwischen dem Indikator zum lebenslangen Lernen für den EU-Benchmark (auf der Grundlage des LFS) und der Teilnahmequote auf der Grundlage von AES dargestellt. 4 Unterschiede sind hier von besonderer Bedeutung:

  1. Die Referenzperiode umfasst beim LFS-Indikator nur 4 Wochen, im AES 12 Monate. Dies schlägt sich u. a. in Niveauunterschieden nieder; wie zu erwarten, liegt in allen Staaten der AES-Indikator über dem LFS-Indikator.
  2. Bestimmte Formen non-formaler Weiterbildung – geplantes Training/Unterweisung am Arbeitsplatz – sind im LFS ausgeschlossen, im AES jedoch enthalten. Diese Form der betrieblichen Weiterbildung hat in den einzelnen Staaten unterschiedliche quantitative Bedeutung. Entsprechende Tabellen sind derzeit in der Eurostat-Datenbank nicht veröffentlicht, Eurostat hat jedoch für ausgewählte Länder Ergebnisse auf der Grundlage der AES-Piloterhebung in einem Arbeitspapier veröffentlicht (Eurostat 2011b). Von allen Teilnehmenden an non-formaler Bildung haben nach Eurostat-Angaben in den einzelnen Ländern zwischen 15 % und 84 % an betrieblicher Weiterbildung am Arbeitsplatz teilgenommen (ebd., Table 3). Allerdings ist Mehrfachteilnahme an verschiedenen Formen der Weiterbildung nicht selten und muss bei einer Berechnung der Teilnahmequote an non-formaler Bildung unter Ausschluss der Weiterbildung am Arbeitsplatz entsprechend berücksichtigt werden. Die Teilnahme an non-formaler Bildung ohne geplante betriebliche Weiterbildung am Arbeitsplatz liegt nach Angaben von Eurostat (ebd., Table 5) in 3 Ländern (Bulgarien, Slowakei, Schweden) mehr als 20 Prozentpunkte unter der Teilnahme an non-formaler Bildung insgesamt, bei 8 anderen Ländern (Zypern, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Norwegen, Polen, Vereinigtes Königreich) ist sie zwischen 10 und 20 Prozentpunkten niedriger. In den übrigen 7 Ländern, die von Eurostat in diese Auswertung einbezogen wurden, spielt das Lernen am Arbeitsplatz eine quantitativ eher unbedeutende Rolle oder wird durch andere Weiterbildungsformen ergänzt; in diesen Ländern leistet der Ausschluss dieser Lernform im LFS praktisch keinen Erklärungsbeitrag zur Differenz der Teilnahmequoten zwischen LFS und AES. Insgesamt zeigen diese Analysen, dass die Differenz zwischen den AES-Teilnahmequoten und dem LFS-Indikator teilweise dadurch verursacht ist, dass im LFS eine relevante Lernform ausgeblendet ist. Der im LFS definitionsgemäß nicht erfasste Teil des Lernens Erwachsener ist je nach Land unterschiedlich groß (absolut und relativ).
  3. Proxy-Interviews sind im LFS zulässig und werden in allen Staaten eingesetzt, in den skandinavischen Staaten allerdings nur in geringem Ausmaß. Im AES sollten Proxy-Interviews (gemäß Europäische Kommission 2008b, S. 7) vermieden werden und wurden nur in 6 Ländern eingesetzt. Bei einem Proxy-Interview antwortet die Zielperson nicht selbst, sondern ein anderes Haushaltsmitglied macht Angaben über die Zielperson. Die Zuverlässigkeit dieser Angaben ist je nach Sachverhalt unterschiedlich einzuschätzen, deshalb gibt es auch kein einheitliches Bild der Effekte von Proxy-Interviews (Zühlke 2008). Statistics Canada hatte auf der Grundlage von Forschungsergebnissen, die auf eine starke Untererfassung der Beteiligung am lebenslangen Lernen durch Proxy-Interviews hindeuten, den Einsatz von Proxy-Interviews im „Adult education and training survey“ ab 1992 nicht mehr zugelassen (Statistics Canada 2001, S. 65). Analysen auf der Grundlage des britischen LFS zeigen, dass bei direkten Interviews im Zeitverlauf steigende Teilnahmequoten am lebenslangen Lernen festzustellen waren, während es bei Proxy-Interviews keine Veränderung der Teilnahmequoten über die Zeit gab (Felstead/Green/Mayhew 1998, S. 65/66). Multivariate Analysen zeigen einen substantiellen negativen Einfluss des Proxy-Interviews auf die gemessene Beteiligung am lebenslangen Lernen (Green/Zanchi 1997 zitiert nach Felstead/Green/Mayhew 1998, S. 66). Proxy-Interviews haben nach diesen Untersuchungen einen dämpfenden Effekt auf die gemessene Teilnahmequote am lebenslangen Lernen. Je nach Verteilung der Proxy-Interviews auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ist dieser Methodeneffekt unterschiedlich ausgeprägt, sowohl bei differenzierter Betrachtung auf nationaler Ebene als auch beim Vergleich zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Sofern dieser Effekt der Proxy-Interviews nicht nur in den untersuchten Staaten, sondern auch in anderen Staaten wirksam ist, könnten Niveauunterschiede im Ausmaß der Proxy-Interviews auch teilweise die Unterschiede der gemessenen Beteiligung am lebenslangen Lernen erklären. Für fundiertere Aussagen ist weitere Forschung erforderlich.
  4. Eurostat (2011b, S. 1) weist darauf hin, dass die Unterschiede der in AES und LFS ermittelten Teilnahmequoten auch dadurch bedingt sein könnten, dass es sich beim AES um eine Einthemenbefragung handelt, führt das Argument allerdings nicht weiter aus. Eine Einthemenbefragung bietet zunächst einmal die Möglichkeit der ausführlicheren Erhebung des interessierenden Sachverhalts, und damit auch die Möglichkeit, Erinnerungsproblemen entgegenzuwirken. Schon bei der Kontaktaufnahme mit den Zielpersonen kann zudem das Befragungsthema angesprochen und eingeführt werden. Allerdings könnte letzteres auch mit dem Nachteil verbunden sein, dass bei Umfragen mit freiwilliger Beteiligung diejenigen, die sich für das Thema nicht interessieren, häufiger eine Beteiligung ablehnen (Leverage-Saliency-Theorie; vgl. Groves/Singer/Corning 2000). Dies könnte bedeuten, dass sich an freiwilligen Weiterbildungsbefragungen weiterbildungsaktive oder -interessierte Personen überdurchschnittlich oft beteiligen, die somit dann in der realisierten Stichprobe überrepräsentiert wären. Dies würde dann dazu führen, dass die Weiterbildungsbeteiligung in freiwilligen Einthemenbefragungen (wie dem AES in Deutschland und früher dem Berichtssystem Weiterbildung BSW) überschätzt würde (Widany 2009, S. 143 f.). Der LFS ist dagegen in Deutschland wie in einigen anderen Staaten eine Befragung mit Auskunftspflicht, und die Fragen zur Weiterbildung spielen eine untergeordnete Rolle.
    Groves/Presser/Dipko (2004) haben die Leverage-Saliency-Theorie experimentell getestet; sie konnten zwar zeigen, dass bei thematischem Interesse eine erhöhte Teilnahmebereitschaft an Befragungen besteht, die Effekte waren jedoch in ihren Experimenten nicht stark genug, um von einer Verzerrung der Befragungsergebnisse zu sprechen. Für eine Beurteilung der Erklärungskraft der Leverage-Saliency-Theorie für Befragungen im Themenfeld Weiterbildung sind die Befunde derzeit nicht ausreichend. Nach Kenntnis der Autorinnen gibt es aber auch keine eindeutigen Hinweise auf eine Überschätzung der Teilnahmequote in freiwilligen Einthemenbefragungen durch einen Leverage-Saliency-Effekt. Auch hier besteht noch eine Forschungslücke.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es gibt Unterschiede zwischen dem AES und dem LFS, vor allem das im AES breitere Fragenprogramm mit Erinnerungsstützen, Beispielen und teilweise auch Listenvorlagen. AES liegt ein umfassenderer Begriff des lebenslangen Lernens zugrunde, was sich u. a. in den Niveauunterschieden der jeweils gemessenen Teilnahmequoten niederschlägt. Der AES bildet dabei nicht nur ein breiteres Spektrum des Lernens Erwachsener in einem längeren Referenzzeitraum ab, es gibt auch trotz der im Vergleich zum LFS wesentlich kleineren Stichprobe Argumente für eine höhere Qualität der Informationen aus dem AES im Vergleich zum LFS.

AES und LFS unterscheiden sich auch in den Ergebnissen zur Entwicklung der Teilnahmequoten in den einzelnen Staaten Tabelle C2.2-1. In einigen Staaten, darunter Deutschland, ist laut AES von einem Anstieg des lebenslangen Lernens zwischen 2007 und 2011/2012 auszugehen, während laut LFS keine oder eine deutlich schwächere positive Entwicklung zu verzeichnen ist. In Italien, Zypern und Polen hat sich die Teilnahmequote im LFS sogar negativ entwickelt, während sie im AES gestiegen ist; eine solche Entwicklung kann dann eintreten, wenn die im LFS nicht erfasste betriebliche Weiterbildung am Arbeitsplatz an relativer Bedeutung gewinnt und andere Formen möglicherweise sogar verdrängt.287 Überraschend und widersprüchlich sind die Fälle, in denen eine positive oder stabile Entwicklung des LFS-Indikators mit einer rückläufigen Teilnahmequote laut AES einhergeht. Es liegen keine Informationen vor, die eine Aufklärung dieses Widerspruchs erlauben; Aufklärung könnten nur zusätzliche Informationen aus den nationalen statistischen Ämtern oder von Eurostat bringen. Möglicherweise können auch die Ergebnisse eines derzeit laufenden Projektes im Auftrag von Cedefop, welches die Qualität von AES und CVTS auf europäischer Ebene untersucht, zur Aufklärung beitragen.288 

Tabelle C2.2-1: Vergleich der Entwicklung der Teilnahmequoten am lebenslangen Lernen in LFS (2011–2007) und AES (2011/2012–2007)

  • 287

    Nach den Ergebnissen von CVTS ist in Italien und Zypern die Teilnahmequote an Weiterbildung am Arbeitsplatz deutlich gestiegen, in Polen jedoch nicht (vgl. Kapitel C4.2).

  • 288

    Siehe Fußnote 275.