Die Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen zu steigern, ist seit langem ein politisches Ziel. Hierzu wurden sowohl national wie auf EU-Ebene Zielmarken definiert, die zu einem festgelegten Zeitpunkt erreicht sein sollen:
- Im Rahmen der Lissabon-Strategie wurde (erstmals 2003) ein Ziel vereinbart, das im Durchschnitt der EU-Staaten erreicht werden soll: im Jahr 2020 sollen 15 % der 25- bis 64-Jährigen innerhalb eines Zeitraums von 4 Wochen an formaler und/oder non-formaler Aus- und Weiterbildung teilnehmen.
- In Deutschland haben sich Bund und Länder das Ziel gesetzt, bis 2015 die Weiterbildungsbeteiligung der 25- bis 64-Jährigen, bezogen auf einen Zeitraum von 12 Monaten, auf 50 % zu steigern.
Nicht nur die Ziele, sondern auch die Datengrundlagen zur Messung des jeweiligen Standes der Zielerreichung wurden dabei festgelegt: im Rahmen der Lissabon-Strategie der Labour Force Survey, auf nationaler Ebene der Adult Education Survey. Diese beiden Erhebungen bilden gemeinsam mit dem Continuing Vocational Training Survey die wesentliche Datengrundlage für empirische Aussagen zum Lernen Erwachsener in der EU und den einzelnen Mitgliedstaaten. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Abgrenzung dessen, was als Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen erfasst werden soll, sowie in der Methodik der Erfassung dieser Lernaktivitäten.
Der Labour Force Survey (LFS) hat dabei die engste Abgrenzung des lebenslangen Lernens: Er bezieht formale und non-formale Aus- und Weiterbildungsaktivitäten ein, schließt dabei allerdings vorausgeplantes Training/Unterweisung am Arbeitsplatz aus und bezieht sich auf einen relativ kurzen Zeitraum vor der Befragung. Bei Proxy-Interviews (stellvertretende Beantwortung des Fragebogens durch andere Erwachsene im Haushalt), die im LFS in den meisten Ländern einen relativ großen Anteil haben, besteht die Gefahr der Untererfassung insbesondere der non-formalen Bildungsaktivitäten. Auch die oft ungestützte Fragetechnik dürfte sich dämpfend auf die gemessene Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen auswirken. Der LFS liefert also einen Indikator der Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen, der einen engen Ausschnitt des Lernens Erwachsener erfasst; der „fehlende“ Teil hat in den europäischen Staaten absolut und relativ unterschiedliche Bedeutung. Darüber hinaus ist durch die methodische Anlage der Befragung eine Unterschätzung wahrscheinlich, die sich zudem durch länderspezifische Varianten der Frageformulierungen, der Ausführlichkeit von Erläuterungen und Beispielen sowie des unterschiedlichen Anteils von Proxy-Interviews und ihrer Verteilung auf verschiedene Bevölkerungsgruppen jeweils unterschiedlich auswirkt.
Der Adult Education Survey (AES) erfasst alle Formen intentionalen Lernens, als Teilnahmequote wird von Eurostat die Beteiligung an formalen und non-formalen Lernaktivitäten ausgewiesen sowie (derzeit nur für 2007) gesondert die Beteiligung am informellen Lernen. Die Abgrenzung zwischen formalen und non-formalen Lernaktivitäten wurde im AES 2011/2012 etwas anders definiert als im AES 2007, sodass für Vergleiche zwischen den Wellen die zusammengefasste Quote heranzuziehen ist. Geplantes Training und Schulung am Arbeitsplatz sind dem non-formalen Lernen zugeordnet. Im AES kommt ein breiteres Fragenprogramm zum Einsatz, es werden Erinnerungsstützen (Nennung von Beispielen, Listenvorlagen) verwendet und der Gegenstandsbereich ausführlich erläutert. AES wird in den einzelnen Staaten überwiegend als Einthemenbefragung durchgeführt; dies ist mit dem Vorteil verbunden, dass schon bei der Kontaktaufnahme in das Thema eingeführt werden kann. Allerdings wird auch diskutiert, dass freiwillige Einthemenbefragungen zur Überrepräsentierung der am Thema interessierten Bevölkerungsgruppen und in der Folge möglicherweise zu Überschätzungen der gemessenen Teilnahmequote führen könnten. Nach Kenntnis der Autorinnen gibt es keine eindeutigen Hinweise auf solche Verzerrungen.
Der Continuing Vocational Training Survey (CVTS) erfasst intentionales formales, non-formales und informelles Lernen in ausgewählten Formen, das zumindest teilweise während der Arbeitszeit erfolgt oder für das der Arbeitgeber Kosten trägt. Als Teilnahmequote wird die Beteiligung an betrieblich finanzierten Weiterbildungskursen während eines Kalenderjahres ausgewiesen; die Beteiligung an nicht-kursförmiger Weiterbildung wird gesondert dargestellt. CVTS ist eine Befragung der Unternehmen mit 10 und mehr Beschäftigten in vielen Branchen. Die Teilnahmequote bezieht sich auf die Beschäftigten in diesen Unternehmen.
Die 3 Erhebungen kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen:
- Nach dem LFS waren im Jahr 2011 in der EU 8,8 % der 25- bis 64-Jährigen in einem Zeitraum von 4 Wochen am lebenslangen Lernen (formal und/oder non-formal) beteiligt; in Deutschland wird mit einer Teilnahmequote von 7,8 % nur ein unterdurchschnittlicher Wert erreicht.
- Nach dem AES 2011/2012 waren in der EU 40 % der 25- bis 64-Jährigen in einem Zeitraum von 12 Monaten am lebenslangen Lernen (formal und/oder non-formal) beteiligt; in Deutschland wird mit einer Teilnahmequote von 50 % ein überdurchschnittlicher Wert erreicht.
- Nach CVTS nahmen im Jahr 2010 38 % der Beschäftigten in Unternehmen mit 10 und mehr Beschäftigten an betrieblich finanzierten Weiterbildungskursen teil; die für Deutschland ausgewiesene Teilnahmequote liegt mit 39 % geringfügig über dem Durchschnitt.
Niveauunterschiede zwischen den Ergebnissen der 3 Erhebungen sind wegen der Unterschiede hinsichtlich der Länge der Referenzperioden (4 Wochen vs. 12 Monate), der Abgrenzung des lebenslangen Lernens und der Bezugspopulation (Gesamtbevölkerung vs. abhängig Beschäftigte) zu erwarten. Sie sind darüber hinaus von den methodischen Gegebenheiten der jeweiligen Erhebungen beeinflusst (vor allem ungestützte oder gestützte Fragetechnik, Proxy-Interviews).
Die 3 Surveys kommen jedoch auch hinsichtlich der Entwicklung der Beteiligung am lebenslangen Lernen zu unterschiedlichen Ergebnissen:
- LFS: Die von Eurostat geschätzte durchschnittliche Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen in der EU hat sich zwischen 2005 und 2011 rückläufig entwickelt und ist 2012 wieder leicht angestiegen. Diese Entwicklung ist auch von Brüchen in der Zeitreihe beeinflusst; nach Modellrechnungen der Europäischen Kommission ergibt sich Stabilität im Vergleich der Jahre 2006 und 2011. Die in Deutschland gemessenen Teilnahmequoten schwanken in einem Korridor von 7,5 % bis 7,9 % ohne eindeutige Entwicklung.
- AES: Die von Eurostat geschätzte durchschnittliche Teilnahmequote an formaler und non-formaler Aus- und Weiterbildung für EU-28 hat sich zwischen AES 2007 und AES 2011/2012 um 5 Prozentpunkte erhöht, auch für Deutschland ist eine Erhöhung um 5 Prozentpunkte zu verzeichnen.
- CVTS: Die von Eurostat geschätzte durchschnittliche Beteiligung an betrieblich finanzierter kursförmiger Weiterbildung der Beschäftigten in der EU hat sich von 1999 (39 %) nach 2005 (33 %) zunächst verringert; 2010 lag diese Teilnahmequote bei 38 %. Auch in Deutschland war zwischen 1999 (32 %) und 2005 (30 %) ein Rückgang zu verzeichnen, der vergleichsweise schwach ausfiel, anschließend gab es eine kräftige Steigerung bis 2010 (39 %). Die betrieblich finanzierte kursförmige Weiterbildung in Deutschland, die 1999 und 2005 einen kleineren Teil der Beschäftigten einbezog als im EU-Durchschnitt, erreicht mittlerweile einen ähnlichen Anteil der Beschäftigten wie im europäischen Durchschnitt.
Unterschiedliche Entwicklungen der gemessenen Teilnahmequoten können dann auftreten, wenn die Teilbereiche des lebenslangen Lernens, die nicht in allen Erhebungen enthalten sind, sich anders entwickeln als der gemeinsame Erfassungsgegenstand aller Erhebungen. Der Ausschluss des Lernens am Arbeitsplatz im LFS und die Einbeziehung in AES und CVTS ist ein solcher Bereich, der zu unterschiedlicher Entwicklung der jeweils gemessenen Beteiligungsquoten beiträgt: Die Teilnahmequote der Beschäftigten an geplanten Phasen der Weiterbildung am Arbeitsplatz hat nach den Ergebnissen von CVTS im Durchschnitt der EU und auch in Deutschland zwischen 2005 und 2010 zugenommen.
Mit Blick auf das bildungspolitische Ziel einer generellen Steigerung der Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen legen die Ergebnisse gegensätzliche Bewertungen nahe: Nach dem LFS ist in der EU kein Fortschritt bei der Beteiligung am lebenslangen Lernen feststellbar, vielmehr ist die durchschnittliche Teilnahmequote gesunken; die Erreichung des selbstgesetzten Ziels bis 2020 ist unwahrscheinlich. Nach dem AES zeigt sich dagegen eine merkliche Erhöhung der Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen in der EU, wenn auch nicht in allen Staaten. In Deutschland ist nach den Ergebnissen des AES die Beteiligungsquote kräftig gestiegen, das 2008 beim Dresdner Bildungsgipfel gesetzte Ziel ist nahezu erreicht. Auch die Ergebnisse aus CVTS deuten nach 2005 auf eine deutliche Zunahme der Teilnahme Beschäftigter an betrieblicher Weiterbildung in Deutschland und im europäischen Durchschnitt hin. Auch hinsichtlich der Einbeziehung verschiedener Bevölkerungsgruppen werden unterschiedliche Ergebnisse erzielt: Nach dem AES ist das Altersgefälle der Einbeziehung in das lebenslange Lernen deutlich geringer als nach dem LFS, und auch für die Einbeziehung der Geringqualifizierten zeichnet der AES ein positiveres Bild als der LFS.
Die disparaten Ergebnisse der Surveys sind auf unterschiedliche methodische Vorgehensweisen zurückzuführen, die sich auch in Qualitätsunterschieden der erhobenen Daten niederschlagen. Der LFS hat den Vorteil der sehr großen Stichprobe, aber den Nachteil der wahrscheinlichen Unterschätzung durch direkte ungestützte Fragen und Proxy-Interviews. Es gibt daher gute Argumente für eine höhere Qualität der Informationen aus dem AES im Vergleich zum LFS. Jenseits der methodischen Fragen ist vor allem die unterschiedliche Abgrenzung des lebenslangen Lernens relevant. Der LFS berücksichtigt einen wesentlichen Teil des Lernens Erwachsener nicht; er bildet also mit seinem Indikator zum lebenslangen Lernen einen Teilbereich ab – aber eben nicht „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen, bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001, S. 9), und nicht das lebenslange Lernen in allen Kontexten (vgl. Delors/International Commission on Education for the Twenty-First Century 1996). Eine Begründung für diese starke Einengung des Spektrums des lebenslangen Lernens (wie sie im LFS vorgenommen wurde) fehlt jedoch. AES und CVTS bilden ein breiteres Spektrum des Lernens Erwachsener ab, einschließlich eines im LFS fehlenden, aber quantitativ bedeutsamen und möglicherweise zunehmenden Teilbereichs des lebenslangen Lernens. Nach Auffassung der Autorinnen bilden AES und CVTS die Realität des lebenslangen Lernens adäquater ab als der LFS.
(Friederike Behringer, Gudrun Schönfeld)