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Der vorherige Abschnitt hat gezeigt, dass unter der Annahme langfristiger Wanderungsgewinne und trotz eines leicht zurückgehenden Bedarfs an Personen mit einem vollqualifizierenden Berufsabschluss massive Engpässe im mittleren Qualifikationsbereich auftreten werden. Diese Entwicklung ist bereits bei der Betrachtung der Rekrutierungsschwierigkeiten für sozialversicherungspflichtige Stellen sichtbar (vgl. Kapitel C3.1). Neben der Erkenntnis, dass sich das Angebot an qualifizierten Fachkräften bis 2030 insgesamt stark verknappen wird, stellt sich jedoch die Frage, welche unterschiedlichen Auswirkungen dies auf die Deckung des Arbeitskräftebedarfs in den Berufen hat, die in verstärktem Maße von Personen mit einem vollqualifizierenden Berufsabschluss bzw. mit einem Fortbildungsabschluss erlernt und ausgeübt werden.317 Schließlich könnten langfristig auch akademische oder nicht formal qualifizierte Arbeitskräfte die Tätigkeiten in diesen Berufen ausüben.

Geht man von der vereinfachten Annahme aus, dass eine Passung immer dann besteht bzw. bestand, wenn ein Ausbildungsverhältnis eingegangen und auch erfolgreich beendet wurde, so kann durch die Fortschreibung der erreichten Berufsqualifikationen ein Trend im Berufswahlverhalten nachgezeichnet werden. Inwieweit diese Fortschreibung der erfolgreichen Passungen im Bildungssystem langfristig auch eine Passung innerhalb des beruflichen Bereichs am Arbeitsmarkt bedeutet, zeigt sich, wenn unter Berücksichtigung von Nachfrageentwicklung und Austauschprozessen (hierzu gehören die Lohnanpassungen und die berufliche Flexibilität am Arbeitsmarkt) eine entsprechende Entwicklung von Angebot und Nachfrage in den ausgewählten Berufsfeldern zu beobachten ist.

Im Folgenden werden 2 langfristige Szenarien berechnet, welche beide eine Konstanz der derzeitigen Erfolgsquoten an den verschiedenen Bildungsstätten der beruflichen Bildung und an den (Fach-)Hochschulen sowie der derzeitigen Übergänge zwischen den allgemeinbildenden Schulen und den genannten Bildungsstätten unterstellen (Maier u. a. 2014 b). Beide Szenarien projizieren somit eine Angebots- und Bedarfsentwicklung nach Qualifikationsstufen wie in Schaubild C3.2-1 dargestellt. Sie unterscheiden sich jedoch in der Berufswahl innerhalb der Bildungsstätten des berufsbildenden und des akademischen Bereichs. Während die Basisprojektion von einer konstanten Berufswahl innerhalb der verschiedenen Bildungsstätten entsprechend den Verteilungen im Jahr 2011 ausgeht, berücksichtigt das Alternativszenario die bereits in Kapitel C1.1 aufgezeigten berufsspezifischen Trends im Bildungsverhalten. Dabei wird unterstellt, dass sich die zwischen 2000 und 2011 auftretende durchschnittliche jährliche Veränderung der Berufsstruktur in den Qualifikationen in verlangsamtem Maße fortsetzt (siehe auch Schaubild C1.2-1). Das heißt, beide Szenarien gehen von einer weiteren Ausweitung des akademischen Bereichs und einer insgesamt zurückgehenden Bedeutung des beruflichen Bereichs aus. Jedoch berücksichtigt das Alternativszenario im Gegensatz zum Basisszenario auch den strukturellen Wandel im Bildungsverhalten innerhalb der beruflichen und akademischen Bildungsstätten.

Tabelle C3.3-1 stellt das kumulierte Neuangebot an Arbeitskräften nach Berufsfeldern für die Jahre 2012 bis 2030 beider Szenarien gegenüber und vergleicht dies mit den im selben Zeitraum aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Erwerbspersonen. Dabei werden nur die Berufsfelder für die Darstellung ausgewählt, in denen die berufliche Qualifikation zu mindestens zwei Dritteln im nicht-akademischen Bereich erlangt wird und die innerhalb des beruflichen Bereichs zu den 15 größten Berufsfeldern zählen.318 Knapp 80 % aller nicht-akademisch ausgebildeten Personen haben einen Beruf in einem der nachfolgend aufgeführten 15 Berufsfelder gelernt.

Den Annahmen entsprechend setzt sich im Alternativszenario die Verschiebung innerhalb des beruflichen Bereichs fort (vgl. Kapitel C1.2). Die Erwerbstätigenbestände im Bereich der „Elektroberufe“ und im Berufsbereich „Bauberufe, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung“ werden gemäß dem Alternativszenario relativ die stärksten Rückgänge im Neuangebot an Arbeitskräften zu verzeichnen haben Tabelle C3.3-1. Die stärksten Zugewinne im produzierenden Bereich werden bei den „Industrie- und Werkzeugmechaniker/ -innen“ zu finden sein. Hier liegt das kumulierte Neuangebot an Arbeitskräften auch über der im selben Zeitraum ausscheidenden Zahl an Erwerbspersonen, die den entsprechenden Beruf gelernt haben. Der Großteil der Berufsfelder wird in beiden Szenarien mehr qualifizierte Arbeitskräfte durch die aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Personen verlieren als neu über das Bildungssystem hinzukommen werden. Dies ist dem bereits dargestellten demografischen Wandel und der zurückgehenden Bedeutung des nicht-akademischen Berufsbildungssystems geschuldet. Ein Anwachsen des Fachkräftebestandes ist neben den „Industrie- und Werkzeugmechanikern“ nur noch in den „sonstigen kaufmännischen Berufen“, den „Gesundheitsberufen ohne Approbation“ und in den „Hotel-, Gaststättenberufen, Hauswirtschaft“ festzustellen. Alle 3 Berufsfelder haben eine starke Fokussierung auf den Dienstleistungsbereich.

Aufgrund des veränderten Berufswahlverhaltens in den verschiedenen Ausbildungsstätten ändert sich im Vergleich von Basisprojektion und Alternativszenario auch das jeweilige Durchschnittsalter im Neuangebot in den Berufsfeldern, da z. B. eine akademische Ausbildung i. d. R. längere Ausbildungszeiten bedeutet und somit das entsprechende Neuangebot an qualifizierten Arbeitskräften tendenziell erst später zur Verfügung steht. Berufe, die in der Ausbildung von Nachwuchskräften im Alternativszenario anteilsmäßig verlieren, werden im Vergleich zur Basisprojektion im Schnitt auch etwas ältere Personen aufweisen. Der höhere Altersdurchschnitt führt dann dazu, dass insgesamt etwas weniger Personen am Erwerbsleben teilnehmen.319 In den Spalten zu den „Erwerbspersonen erlernter Beruf 2030“ in Tabelle C3.3-1 wird dies berücksichtigt. Trotz dieser indirekten Effekte (bedingt durch die aufgrund des Bildungsverhaltens veränderte Altersstruktur der Erwerbspersonen) ist die Veränderung des Erwerbspersonenbestandes im Vergleich von Alternativszenario und Basisprojektion etwas geringer als beim ursprünglichen Vergleich des Neuangebots aus dem Bildungssystem. Denn der größere Teil der bereits heute Erwerbstätigen wird bis 2030 nicht aus dem Erwerbsleben ausscheiden, sondern auch noch in 15 Jahren dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Inwieweit langfristig der Bedarf an Erwerbstätigen durch das berufsfeldspezifische Arbeitsangebot aber auch tatsächlich gestillt werden kann, hängt nicht nur vom Angebot an Erwerbspersonen ab, die den gewünschten Beruf gelernt haben, sondern auch von der beruflichen Flexibilität dieser Fachkräfte und der Substituierbarkeit des Berufsfeldes durch anders qualifizierte Arbeitskräfte. Berücksichtigt man die voraussichtlichen Abwanderungen von Fachkräften aus einem Berufsfeld und Zuwanderungen von Arbeitskräften in das Berufsfeld, so verschwinden die Unterschiede des berufsfeldspezifischen Arbeitsangebots nach Basisprojektion und Alternativszenario (Tabelle C3.3-1).320  Die Grundtendenzen eines strukturell gewinnenden oder verlierenden Berufsfeldes bleiben jedoch erhalten.

Vergleicht man das jeweils spezifische Arbeitsangebot der beiden Berechnungen unter Berücksichtigung
der beruflichen Austauschprozesse mit der Zahl der im Jahr 2030 voraussichtlich benötigten Erwerbstätigen, so fällt auf, dass die alternativ aufgezeigte Entwicklung zu keinen dramatischeren Arbeitskräfteengpässen oder -überhängen führt als die Basisprojektion (Tabelle C3.3-1). Dies bedeutet, dass die Fortschreibung bisheriger struktureller Verschiebungen innerhalb des beruflichen Ausbildungsbereichs bis 2030 kaum Auswirkungen auf das tatsächlich zur Verfügung stehende Angebot an Erwerbspersonen für einen Beruf haben wird. Problematisch ist hingegen das allgemein zurückgehende Interesse bzw. Angebot am beruflichen Bereich und das gleichzeitige Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben (vgl. Kapitel C3.2). Langfristig wird dies insbesondere in den „Bauberufen, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung“, in den „Verkaufsberufen (Einzelhandel)“, in den „Gesundheitsberufen ohne Approbation“, „Berufen in der Körperpflege“ und in den „Hotel-, Gaststättenberufen, Hauswirtschaft“ zu spüren sein. 

Tabelle C 3.3-1: Veränderte Berufsstruktur: Basisprojektion und Alternativszenario für 2030 in den 15 relevantesten Berufsfeldern des beruflichen Bereich

  • 317

    Während akademisch erlernbare Berufe zumeist in gut abgrenzbaren Berufsfeldern stattfinden, haben Personen mit einem vollqualifizierenden Berufsabschluss und Fortbildungsabschlüssen eher überlappende Tätigkeitsfelder (Tiemann u. a. 2008). 

  • 318

    In Schaubild C1.2-1 wurden aus Darstellungsgründen nur die 10 am häufigsten besetzen Berufsfelder des beruflichen Bereichs ausgewählt. Diese bildeten rund zwei Drittel aller erlernten Fachkräfte dieses Qualifikationsbereiches ab. 

  • 319

    Aufgrund dieser indirekten Effekte der altersspezifischen Erwerbsquoten lassen sich die absoluten Differenzen des Neuangebotes zwischen der Basisprojektion und dem Alternativszenario nicht auf die Gesamtzahl der Erwerbspersonen zwischen beiden Berechnungen übertragen. 

  • 320

    Die BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen berücksichtigen be­rufliche Flexibilitäten in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Qualifikations­niveau der Erwerbspersonen und in Abhängigkeit von Lohnentwicklungen in den Berufsfeldern (siehe Maier u. a. 2014 a).