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In Kapitel C3.2 wurde dargestellt, wie sich das Angebot von und die Nachfrage nach Fachkräften im beruflichen Bereich langfristig entwickeln. Hier konnte als Ergebnis festgehalten werden, dass das Angebot an Erwerbspersonen – aufgrund des Ausscheidens der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt und der geringeren Bedeutung einer vollqualifizierenden Berufsausbildung im Vergleich zu einer akademischen Ausbildung unter den jüngeren Generationen – weitaus stärker zurückgehen wird als die Nachfrage an Erwerbstätigen dieser Qualifikationsstufe. Dabei wurden bereits Nettowanderungsgewinne von rund 200.000 Personen pro Jahr berücksichtigt.

Im vorherigen Abschnitt (vgl. Kapitel C3.3) wurde aufgezeigt, wie sich – unter Berücksichtigung des zurückgehenden Arbeitsangebots im nicht-akademischen Bereich  – das Fachkräfteangebot im beruflichen Bereich in den 15  größten Berufsfeldern bis 2030 entwickeln kann. Hierfür wurde eine konstante Berufsstruktur des Neuangebotes aus dem Bildungssystem unterstellt (Basisprojektion) und dies einem Alternativszenario gegenübergestellt, das die berufsstrukturellen Verschiebungen innerhalb der jeweiligen Bildungsstätten seit dem Jahr 2000 berücksichtigt. Dabei stellte sich heraus, dass trotz erkennbarer Unterschiede in der Entwicklung der gelernten Fachkräfte langfristig beide Berechnungsweisen zu keinen unterschiedlichen Einschätzungen in der Beurteilung von berufsfeldspezifischen Arbeitskräfteengpässen kommen. Der Hauptgrund für die geringen langfristig sichtbar werdenden Unterschiede in der Entwicklung der beiden Vorausberechnungen ist in den Austauschprozessen des Arbeitsmarktes zu suchen: Erlernte Fachkräfte arbeiten nicht ihr ganzes Erwerbsleben in ihrem erlernten Beruf (berufliche Flexibilität), gleichzeitig haben Arbeitgeber auch die Möglichkeit, für bestimmte Tätigkeiten aus unterschiedlichen Berufen zu wählen (Substituierbarkeit).

Die langfristigen qualifikationsspezifischen Entwicklungen und die beiden Szenarien zur Berufsstruktur führen somit zu folgender Erkenntnis: Es ist für die zukünftige Fachkräftesicherung weniger bedeutsam, ob Jugendliche in einer voll- oder teilzeitschulischen Berufsausbildung oder Fortbildung Beruf A oder Beruf B erlernen, sondern vielmehr, dass überhaupt Jugendliche für eine Ausbildung im beruflichen Bereich zur Verfügung stehen. Können sie nicht für diesen Ausbildungsbereich gewonnen werden, werden auch Attraktivitätsgewinne oder -verluste einzelner Berufe innerhalb des beruflichen Bereichs die langfristigen beruflichen Arbeitsmarktentwicklungen kaum beeinflussen.

Wenn sich ein langfristiger Entwicklungspfad des beruflichen Bereichs wie in Kapitel C3.3 darstellt, dann bleibt die Frage offen, welche Handlungsoptionen bestehen, um langfristige Engpässe in folgenden Berufen zu vermeiden: „Bauberufe, Holz, Kunststoffbe- und -verarbeitung“, „Techniker/ -innen“, „Verkaufsberufe (Einzelhandel)“, „Gesundheitsberufe ohne Approbation“, „Berufe in der Körperpflege“ und „Hotel-, Gaststättenberufe, Hauswirtschaft“. In Tabelle C3.4-1 ist das vorhandene Arbeitsvolumenpotenzial in den 15 häufigsten Berufsfeldern des beruflichen Bereichs in der Basisprojektion dargestellt.321 Dabei sind die bereits in absoluten Termen aufgezeigten Differenzen zwischen Arbeitsangebot und -bedarf (vgl. Tabelle C3.3-1) nochmals in einer relativen Betrachtungsweise wiedergegeben. Neben einer Betrachtungsweise auf Personenebene wird nun aber auch das von den Erwerbspersonen bereitgestellte Arbeitsvolumenpotenzial (Zika u. a. 2012, S. 8) berücksichtigt.

Rechnet man das Arbeitsangebot in Stunden mit ein, so zeigt sich, dass die Engpässe auf Personenebene in den „Bauberufen, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung“, in den „Verkaufsberufen (Einzelhandel)“ und in den „Berufen in der Körperpflege“ zu relativieren sind. Würden die Erwerbspersonen in diesen Berufen die von ihnen gewünschte Stundenanzahl arbeiten können, wäre ein Arbeitskräftemangel in diesen Berufen theoretisch vermeidbar.

Wie bereits zuvor geschildert, spielt die Berücksichtigung von beruflichen Flexibilitäten und Substituierbarkeiten auf dem Arbeitsmarkt eine große Rolle, wenn das berufsfeldspezifische Arbeitsangebot mit dem -bedarf verglichen werden soll. Die Gründe für berufliche Substituierbarkeiten und Wechsel sind mannigfaltig. Zum einen spielen die tatsächlichen Artverwandtschaften der Tätigkeiten und die institutionellen Zugangsbarrieren zur Ausübung eines bestimmten Berufs eine Rolle. Zum anderen können Erwerbspersonen an besseren Arbeitsbedingungen oder einkommenssichernden Beschäftigungen interessiert sein (Maier u. a. 2014 b). In der langfristigen Modellierung der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen hängt die berufliche Flexibilität von den relativen Lohnentwicklungen in den Berufsfeldern, vom Lebensalter der Personen, ihrer beruflichen Qualifikation und vom Geschlecht ab.

Tabelle C3.4-2 gibt einen Überblick über die veränderte qualifikatorische Zusammensetzung der Berufsfeldprojektionen aufgrund von Alterung, Lohnanpassungen und beruflichen Flexibilitäten zwischen 2010 und 2030. In allen ausgewählten Berufsfeldern ist sowohl im Jahr 2010 als auch 2030 der Anteil der gelernten Fachkräfte im Berufsfeld relativ gering. Eine Ausnahme bilden lediglich die „Verwaltungsberufe im öffentlichen Dienst“ und die „Gesundheitsberufe ohne Approbation“. Hier liegt der Anteil der gelernten Fachkräfte im Beruf bei knapp zwei Dritteln bzw. über 70 %. Der Austausch zwischen den Berufsfeldern des beruflichen Bereichs ist somit relativ hoch.

Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Veränderung des Anteils der nicht formal Qualifizierten im Beruf gelegt werden. In allen Berufsfeldern, in denen sowohl auf Personen als auch auf Stundenebene ein Engpass feststellbar ist, steigt der Anteil der beruflich nicht formal Qualifizierten. Eine Ausnahme bilden lediglich die „Berufe in der Körperpflege“. Hier findet vor allem eine Fachkräftezuwanderung aus anderen Berufsfeldern statt. Vergleicht man die Veränderung des Anteils der beruflich nicht formal Qualifizierten von 2010 bis 2030 mit den berufsstrukturellen Verschiebungen innerhalb des beruflichen Bereichs (Tabelle C3.4-2), so fällt zudem auf, dass der Anteil der nicht formal Qualifizierten tendenziell eher dort zunehmen wird, wo innerhalb des beruflichen Bereichs ein relativer Rückgang stattfindet.

Die Erkenntnisse des Kapitels C3 können im Hinblick auf die Entwicklungsperspektiven des beruflichen Bereichs bis 2030 auf folgende Kernaussagen verdichtet werden:

  • Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt werden bereits jetzt von relativen Rekrutierungsschwierigkeiten bei der Besetzung von sozialversicherungspflichtigen Stellen im vorwiegend mittleren Qualifikationsbereich begleitet. In berufsspezifischer Hinsicht sind die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt und die Rekrutierungsschwierigkeiten auf dem Facharbeitermarkt jedoch nicht deckungsgleich.
  • Das Angebot an Erwerbspersonen im beruflichen Bereich wird – aufgrund des Ausscheidens der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt und der geringeren Bedeutung einer vollqualifizierenden Berufsausbildung im Vergleich zu einer akademischen Ausbildung unter den jüngeren Generationen – weitaus stärker zurückgehen als die Nachfrage nach Erwerbstätigen dieser Qualifikationsstufe. Das Arbeitsangebot im akademischen Bereich wird langfristig den Bedarf übersteigen. Erwerbspersonen ohne formal qualifizierenden Berufsabschluss werden weiterhin unterbeschäftigt sein.
  • Die zurückgehende Bedeutung des beruflichen Bereichs wird alle Berufe dieser Qualifikationsstufe – wenn auch in unterschiedlichem Maße – treffen. Berufsstrukturelle Verschiebungen innerhalb des beruflichen Bereichs, die möglicherweise aufgrund von Attraktivitätsgewinnen oder -verlusten einzelner Berufe hervorgerufen werden, beeinflussen diese qualifikationsspezifischen Entwicklungen nur geringfügig, da hierdurch entstehende Veränderungen über berufliche Flexibilitäten und Substituierbarkeiten der bereits im Erwerbsleben stehenden Arbeitskräfte relativiert werden.
  • Trotz berufsfeldspezifischer Arbeitskräfteengpässe auf Personenebene könnte der wirtschaftliche Bedarf an Arbeitskräften in vielen Berufen befriedigt werden, wenn die von den Erwerbspersonen zur Verfügung gestellten Arbeitsstunden auch abgerufen würden. Dies ist vor allem in Berufen mit größerer Teilzeitbeschäftigung wie in den „Verkaufsberufen (Einzelhandel)“ und in den „Berufen in der Körperpflege“ der Fall. Aber auch in den „Bauberufen, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung“ könnte der Arbeitskräfteengpass bis 2030 hierdurch zumindest theoretisch gelöst werden.
  • In Berufsfeldern, in denen bereits jetzt keine Ausbildungsplätze besetzt werden können, droht langfristig eine Dequalifizierung der entsprechenden Arbeiten einzutreten, um die entsprechende Arbeitskräftenachfrage befriedigen zu können. Substitutionsmöglichkeiten durch anders (beruflich oder akademisch) qualifizierte Fachkräfte sind hier eher unwahrscheinlich. Sofern diese Entwicklungen unerwünscht sind, müssten insbesondere für die „Bauberufe, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung“, aber auch für die „Techniker/ -innen“, „Verkaufsberufe (Einzelhandel)“ und in den „Gesundheitsberufen ohne Approbation“, hier vor allem für die Pflegeberufe, attraktivitätssteigernde Maßnahmen in der Ausbildung und in der Erwerbsarbeit vorgenommen bzw. Zugangswege für ausländische Arbeitskräfte erleichtert werden (vgl. Kapitel E4).

(Tobias Maier, Michael Kalinowski, Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik, Gerd Zika,
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)

Tabelle C 3.4-1: Engpässe auf Personen und Stundenebene der 15 relevantesten Berufsfelder des beruflichen Bereichs in 2030

Arbeitsvolumenpotenzial

Das Arbeitsvolumenpotenzial ist ein hypothetisches Konstrukt, das angibt, wie groß das Arbeitsangebot, gemessen in Stunden, tatsächlich ist. Zur Berechnung dieses Konstrukts wird im Mikrozensus, einer 1-Prozent-Stichprobe der Wohnbevölkerung Deutschlands, auf die Zahl der gewünschten wöchentlichen Arbeitsstunden zurückgegriffen, sofern diese über den regelmäßig tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden liegen (Zika u. a. 2012, S. 8).

Tabelle C 3.4-2: Qualifikatorische Zusammensetzung der 15 relevantesten Berufsfelder des beruflichen Bereichs 2010 und 2030 (in %)

  • 321

    Die aufgezeigten Werte unterscheiden sich im Alternativszenario nur geringfügig von der Basisprojektion.