Durchführung einer Sachstandsanalyse
Die Berufsbildung hat den Inklusionsgedanken im Berufsbildungsgesetz (BBiG) verankert. Gemäß § 64 BBiG sollen Menschen mit Behinderung in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden und somit auch einen regulären Ausbildungsabschluss erwerben (bei Bedarf mit Unterstützung des sog. Nachteilsausgleichs [§ 65 BBiG]). Ist dies aufgrund der Art und Schwere der Behinderung nicht möglich, kann die Berufsausbildung auf Grundlage theoriegeminderter Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO (sog. Fachpraktikerregelungen, vgl. Kapitel A3.3.1) erfolgen. In der Öffentlichkeit wird teilweise kontrovers über diese Ausbildungsregelungen und die Arbeitsmarktchancen der Absolventinnen und Absolventen diskutiert, eine fundierte Diskussion wurde bisher jedoch durch die unzureichende Datenlage erschwert (vgl. BIBB-Datenreport 2016, Kapitel A4.1.4 sowie BIBB-Datenreport 2013, Kapitel A4.10).
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Juli 2015 das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) mit einer Sachstandsanalyse zur aktuellen Situation von Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO für Menschen mit Behinderung beauftragt (vgl. Zöller/Srbeny/Jörgens 2016). Erfahrungen in der Anwendung und Umsetzung der rehabilitationspädagogischen Zusatzqualifikation (ReZA), welche für Ausbilder/-innen bei der Durchführung entsprechender Berufsausbildungen grundsätzlich erforderlich ist, wurden ebenfalls einbezogen. Das Erkenntnisinteresse der Studie war im Sinne einer Bestandsaufnahme vielseitig; dieser Beitrag fokussiert auf die Erkenntnisse zu Arbeitsmarktchancen der Absolventinnen und Absolventen der entsprechenden Ausbildungsgänge.
Methodische Vorgehensweise
Neben Sekundäranalysen bereits vorhandener Daten, Dokumenten- und Literaturanalysen fanden im Zeitraum von Oktober 2015 bis Mai 2016 unterschiedlich fokussierte Datenerhebungen statt: Zunächst wurde eine Online-Befragung bei den zuständigen Stellen durchgeführt (Rücklauf 55 %; n = 87). Zur Vertiefung folgten Gruppeninterviews in 9 Kammern. Um den Lernort der praktischen Ausbildung einzubeziehen, wurde eine Betriebsbefragung im Rahmen des BIBB-Referenz-Betriebs-Systems (RBS 1/2016) durchgeführt (Rücklauf 22 %; n = 296). Darüber hinaus wurden Absolventinnen und Absolventen, die im Jahr 2015 den Abschluss einer Ausbildung nach § 66 BBiG/§ 42m HwO erworben haben, in einer postalischen Erhebung nach ihren Erfahrungen befragt (Rücklauf 19 %; n = 1046). In einem Workshop mit Expertinnen und Experten fand zudem ein Austausch zur ReZA statt. Bei allen Befragungen wurde hinsichtlich der gesetzlichen Grundlagen der Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO differenziert.
Fachpraktiker-Ausbildungen (§ 66 BBiG/§ 42m HwO) nach der Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses (berufsspezifische Musterregelungen)
Im Dezember 2010 wurde die Rahmenregelung für Ausbildungsregelungen für behinderte Menschen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO als Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses (HA-Empfehlung 136) verabschiedet (vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung 2010b). Damit wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Regelungen für Ausbildungen von Menschen mit Behinderung nach bundeseinheitlichen Richtlinien und Standards erlassen werden können. Auf Grundlage dieser Rahmenregelung wurden bisher 9 (während der Projektlaufzeit: 7) berufsspezifische Musterregelungen erarbeitet und als bundeseinheitliche Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses verabschiedet.
Kammerregelungen gemäß § 66 BBiG/§ 42m HwO
Zusätzlich zu den oben genannten Musterregelungen nach BIBB-Hauptausschussempfehlung existieren zahlreiche Ausbildungsregelungen gemäß § 66 BBiG/§ 42m HwO auf der Grundlage regionaler Kammerregelungen.
Perspektive der zuständigen Stellen
In Bezug auf die Arbeitsmarktchancen von Fachpraktiker-Absolventinnen und -Absolventen zeigen sich zunächst Unterschiede zwischen bundeseinheitlichen Fachpraktiker-Regelungen und regionalen Regelungen. Der Anteil an Regelungen nach bundeseinheitlicher Empfehlung am gesamten Angebot an Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42 m HwO der zuständigen Stellen stieg seit ihrer Einführung ab dem Jahr 2012 deutlich an Schaubild A3.3.2-1.
Als Begründung gaben die zuständigen Stellen in den Interviews vor allem an, dass durch die bundesweite Vereinheitlichung der Regelungen eine – von Arbeitgebern positiv bewertete – höhere Vergleichbarkeit gegeben sei. Gleichwohl werde es auch zukünftig Bedarf an regionalen Kammerregelungen für Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42 m HwO geben, z. B. bei Berufen, für die es keine bundeseinheitliche Empfehlung gibt, oder um auf spezielle Einzelfälle flexibel reagieren zu können.
Dementsprechend lehnten die zuständigen Stellen in der Online-Befragung die Aussage „Fachpraktiker-Ausbildungen (§ 66 BBiG/§ 42m HwO) sollte man wieder abschaffen“ zu 98 % ganz oder eher ab. Der Aussage „Fachpraktiker-Ausbildungen (§ 66 BBiG/§ 42m HwO) bieten Menschen mit Behinderung Anschluss an den Arbeitsmarkt“ stimmten dagegen 90 % eher oder ganz zu, ebenso sollten nach Ansicht der zuständigen Stellen weitere bundeseinheitliche Fachpraktiker-Regelungen verabschiedet werden (83 %). Die Arbeitsmarktrelevanz von (bundeseinheitlichen) Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO bewerten die befragten zuständigen Stellen somit zwar grundsätzlich positiv, allerdings wird auch der vergleichsweise hohe personelle Aufwand für ausbildende Betriebe wahrgenommen (87 %) Schaubild A3.3.2-2.
Schaubild A3.3.2-1: Anteil der Neuabschlüsse von Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42 m HwO (in %)
Schaubild A3.3.2-2: Bewertung der Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO durch zuständige Stellen (in %)
Beschäftigungsperspektive aus Sicht der Absolventinnen und Absolventen
Fast die Hälfte (rund 45 %) der Absolventinnen und Absolventen mit einem Abschluss nach § 66 BBiG/§ 42m HwO im Jahr 2015 standen zum Zeitpunkt der Erhebung in einem Beschäftigungsverhältnis; davon 30 % in einer Vollzeittätigkeit, weitere rund 14 % in Teilzeitbeschäftigung und etwa 2 % in einem Minijob (450-€-Job). In einer weiteren Ausbildung befanden sich etwa weitere 12 %. Mehr als ein Drittel (rund 35 %) war zum Zeitpunkt der Erhebung nach eigenen Angaben nicht erwerbstätig und nicht in Ausbildung. Die differenzierte Betrachtung zeigt, dass Absolventinnen und Absolventen der Fachpraktiker-Ausbildungen nach bundeseinheitlicher Empfehlung mit rund 47 % zu einem geringfügig höheren Anteil in einem Beschäftigungsverhältnis standen als Absolventinnen und Absolventen mit einer Ausbildung nach regionaler Kammerregelung (rund 42 %). Allerdings befanden sich Letztere zu einem etwas höheren Anteil in Vollzeitbeschäftigung (rund 34 %) als die Absolventinnen und Absolventen der bundeseinheitlichen Ausbildungen (rund 27 %). Zu berücksichtigen ist hier auch die Neuheit der bundeseinheitlichen Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42 m HwO Tabelle A3.3.2-1.
Tabelle A3.3.2-1: Beschäftigungssituation in 2016 von Menschen mit Behinderung, die 2015 eine Ausbildung nach § 66 BBiG/§ 42m HwO erfolgreich abgeschlossen haben
Beschäftigungsperspektive aus Sicht der Betriebe
Die Studie hat gezeigt, dass es teilweise deutliche Unterschiede zwischen Betrieben mit und ohne Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung gibt in Bezug auf die Ausbildungsbereitschaft und die Einschätzung der Arbeitsmarktchancen von Absolventinnen und Absolventen von Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42 m HwO.
Insgesamt 10 % der befragten Betriebe (zusammengefasst mit und ohne Erfahrung) haben bereits Absolventinnen und Absolventen von Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO eine staatlich anerkannte Vollausbildung ermöglicht. Von den Betrieben, die schon Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung haben, sind es sogar 33 %, in Betrieben ohne Erfahrung liegt die Quote lediglich bei 6 %. Weiterhin geben 32 % der Betriebe ohne Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung an, sich keine Übernahme von Absolventinnen und Absolventen von Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO in eine anerkannte Ausbildung vorstellen zu können, bei den Betrieben mit Erfahrung sind es weniger als 1 % Tabelle A3.3.2-2.
Tabelle A3.3.2-2: Bereitschaft zur Übernahme in Vollausbildung von Betrieben mit und ohne Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung (in %)
Fragestellung zur Tabelle A3.3.2-2
Frage: „Können Sie sich vorstellen, Menschen mit Behinderung nach Abschluss einer Fachpraktiker-Ausbildung bei entsprechender Eignung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf auszubilden?“
7 % der befragten Betriebe insgesamt und 21 % der Betriebe mit Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung haben bereits Absolventinnen und Absolventen von Ausbildungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis übernommen. Dabei geben nur 1 % der Betriebe mit Erfahrung in der Ausbildung von Menschen mit Behinderung an, sich die Übernahme in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis „eher nicht“ vorstellen zu können, jedoch immerhin 30 % der Betriebe ohne diesbezügliche Erfahrung. In diesem Kontext ist aufschlussreich, dass 45 % der Betriebe, die bisher nicht nach § 66 BBiG/§ 42m HwO ausgebildet haben, dies mit einem Informationsdefizit begründen. Sie geben an, keine Fachpraktiker/-innen auszubilden, weil ihnen diese Ausbildung nicht bekannt ist Tabelle A3.3.2-3.
(Julia Jörgens, Christian Srbeny)
Tabelle A3.3.2-3: Chance von Fachpraktiker-Absolventinnen und -Absolventen, von Betrieben in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis übernommen zu werden (in %)
Fragestellung zur Tabelle A3.3.2-3
Frage: „Würden Sie Menschen mit einem Abschluss als Fachpraktiker/-in in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis in Ihrem Betrieb an Ihrem Standort einstellen?“