Einführung
Weltweit befinden sich rund 65 Mio. Menschen auf der Flucht (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2016). Der weitaus größte Teil sucht Aufnahme in einem anderen Teil des Herkunftslandes oder in benachbarten Staaten. Aber auch in Europa nahm die Zahl der Geflüchteten ab dem Frühjahr 2015 stark zu. In Deutschland wurden im Jahr 2015 rund 890.000 Schutzsuchende und im Jahr 2016 rund 321.000 Schutzsuchende registriert.302 Dabei „handelt es sich – mit Ausnahme der Aufnahme von 12 Mio. Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg – um den größten Zuzug von Geflüchteten seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland“ (Brücker 2016, S. 16).
Die Aufnahme und Integration dieser Menschen in Deutschland ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe geworden, die insbesondere das Bildungssystem vor erhebliche zusätzliche Anforderungen stellt. Denn rund drei Viertel derjenigen, die sich hierzulande um Asyl bewerben, sind unter 30 Jahre alt, rund ein Drittel von ihnen ist minderjährig (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a). Auf der anderen Seite gibt es Betriebe, die dringend Fachkräfte benötigen und Schwierigkeiten haben, ihre offenen Ausbildungsplätze zu besetzen. Eine wesentliche Aufgabe ist es einerseits, Qualifikationen, Kompetenzen und mögliche Potenziale der Neuankömmlinge zu erkennen und andererseits die erforderlichen allgemeinbildenden wie auch berufsqualifizierenden Angebote bereitzustellen, um möglichst viele Geflüchtete auf die Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes vorzubereiten und zur eigenständigen Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu befähigen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Qualifizierungs- und Arbeitsangeboten wie Förderansprüche regeln303, unterscheiden sich in Abhängigkeit von Herkunftsland und Aufenthaltsstatus und sind immer wieder Änderungen unterworfen.
Zudem sind auch die aus den verschiedenen Herkunftsländern mitgebrachten Sprachen und Wertvorstellungen unterschiedlich, und dasselbe gilt für den Erwerb von Bildung und beruflichen Qualifikationen: Für Länder, die schon seit vielen Jahren von Krieg oder Bürgerkrieg und dem Zerfall staatlicher Strukturen betroffen sind (z. B. Afghanistan, Somalia, Sudan), ist anzunehmen, dass dort ein regelmäßiger Schulbesuch seit entsprechend langer Zeit kaum möglich war. Für Länder, in denen erst seit vergleichsweise kurzer Zeit ein (Bürger-)Krieg herrscht (z. B. Syrien), ist dagegen von einem höheren Bildungsniveau auszugehen (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2016; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016b). Welche Bildungsvoraussetzungen und beruflichen Kompetenzen im konkreten Einzelfall vorliegen, entscheidet sich zudem auch danach, ob Schutzsuchende auf direktem Wege nach Deutschland gelangten oder sich die Flucht über mehrere Länder und einen längeren Zeitraum hinweg erstreckt hat, sodass eine schulische Bildung schon aus diesem Grund kaum stattfinden konnte. Und schließlich ist zu berücksichtigen, dass in anderen Ländern viele handwerkliche, technische und kaufmännische Berufe ohne formelle Ausbildung und damit auch ohne nachweisbare Qualifikationen ausgeübt werden. Insofern können Geflüchtete über in Deutschland verwertbare Fähigkeiten verfügen, die durch informelles Lernen am Arbeitsplatz erworben bzw. durch berufliche Erfahrung gewonnen wurden, ohne dass sich dies in zertifizierten Ausbildungsabschlüssen niederschlagen würde (ebda.).
Zur Teilhabe von Geflüchteten an beruflicher Bildung in Deutschland liegen aktuell nur wenige empirische Untersuchungen vor. Auch in den relevanten amtlichen Statistiken wird das Merkmal „geflüchtet“ kaum erfasst. In diesem Schwerpunktkapitel sollen zunächst der Umfang der fluchtbedingten Zuwanderung und die rechtlichen Rahmenbedingungen skizziert werden (Kapitel C1) und ein Einblick in die schulische und berufliche Vorbildung sowie Qualifizierungspotenziale bzw. -bedarfe gegeben werden (Kapitel C2). Anschließend wird die Beteiligung von Geflüchteten an beruflicher Ausbildung betrachtet. Hierfür werden Ergebnisse neuer Forschungsarbeiten des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zur beruflichen Ausbildung junger Geflüchteter aus betrieblicher Sicht sowie aus individueller Perspektive vorgestellt (Kapitel C4) und amtliche Daten ausgewertet (Kapitel C3). Diese Analysen werden ergänzt, um annahmenbasierte Schätzungen des BIBB zu der Nachfrage Geflüchteter nach dualen Ausbildungsplätzen in den nächsten Jahren (Kapitel C5).
Aus diesen Ergebnissen lassen sich erste Schlussfolgerungen ziehen (Kapitel C6).
Darlegungen zur Integration von Geflüchteten aus internationaler Perspektive finden sich in Kapitel D2.
(Monika Bethscheider, Mona Granato)
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302
Vgl. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/05/2016-05-24-easy-asylantrag-unterschied.html. Laut BMI-Pressemitteilung vom 30. September 2016 ist 2015 die tatsächliche Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland gegenüber der ursprünglich veröffentlichten Angabe von 1,1 Mio. Menschen, die 2015 in Deutschland als Schutzsuchende in EASY registriert wurden, durch Doppelzählungen, Weiterreisen, Abschiebungen und Rückkehrmigration deutlich geringer zu veranschlagen (siehe www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015. html).
Zu EASY-Registrierungen im Jahr 2016 siehe www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/01/asylantraege-2016.html. -
303
Zur Wirkung von Rechtsunsicherheit während des Asylverfahrens auf die Arbeitsmarktintegration vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2016, S. 10 f.