Angesichts der wachsenden Besetzungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt und den Veränderungen in der Zusammensetzung der Jugendlichen, die eine duale Ausbildung nachfragen, legt der vorliegende Abschnitt den Fokus auf zentrale Ergebnisse des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen“ zu den Bildungspräferenzen von Jugendlichen am Ende der allgemeinbildenden Schulzeit sowie zu den Merkmalen von Ausbildungsangeboten (Berufe und Betriebe), die die Berufswahl junger Erwachsener beeinflussen.
Bildungsorientierungen in der 9. Klasse
Die Statuspassage Schule – Beruf ist für Jugendliche mit der Herausforderung verbunden, perspektivisch weitreichende Entscheidungen für ihre Bildungs- und Berufsbiografie zu treffen. Gerade am Ende der Sekundarstufe I stellt sich für viele Jugendliche die Frage, ob sie einen schulischen Bildungsweg weitergehen, eine duale Ausbildung beginnen oder andere Bildungsoptionen ins Auge fassen sollen. Welche Bildungspräferenzen für Jugendliche in Frage kommen, wie sich diese im Verlauf des 9. Schuljahres verändern und durch welche personalen Merkmale, sozialen Faktoren und institutionellen Kontexte sie beeinflusst werden, lässt sich unter Rückgriff auf die Daten des Nationalen Bildungspanels (Blossfeld/Roßbach/von Maurice 2011) untersuchen. Die realistischen Präferenzen der Schüler/-innen – d. h. was sie denken, was sie tatsächlich bzw. wahrscheinlich nach dem 9. Schuljahr machen werden – sind bei der großen Mehrheit (72%) in der 9. Klasse von der Vorstellung geprägt weiter zur Schule zu gehen, mit leicht sinkender Tendenz im Verlauf des Schuljahres. Demgegenüber nennen 17% den Beginn einer betrieblichen Lehre als realistische Bildungspräferenz, mit leicht steigender Tendenz im Verlauf der 9. Klasse. Hauptschüler/-innen orientieren sich – zu beiden Zeitpunkten – häufiger an einer Lehre als Realschüler/-innen und männliche Befragte häufiger als weibliche. Die Präferenz für eine duale Ausbildung steht, so die Auswertungen, im Zusammenhang mit den eigenen schulischen Erfahrungen und mit den Bildungsaspirationen des sozialen Umfeldes. Gleichzeitig sind Schüler/-innen, die nach der 9. Klasse eine duale Ausbildung beginnen möchten, optimistischer im Hinblick auf ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt und beruflich besser orientiert (Schnitzler/Granato 2016).
Im Verlauf der 9. Klasse gibt ein Teil der Schüler/-innen seine Präferenz für die Weiterführung eines Schulbesuchs nach der Sekundarstufe I auf und wendet sich anderen Optionen – wie dem Beginn einer beruflichen Ausbildung – zu. Umgekehrt gibt es auch Schüler/-innen, die sich von einer betrieblichen Lehre wegorientieren hin zur Fortsetzung des Schulbesuchs. Die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel in Richtung eines weiteren Schulbesuchs steigt, wenn Schüler/-innen der 9. Klasse, die ursprünglich eine Lehre beginnen wollten, überzeugt sind, den Realschulabschluss schaffen zu können, wenn sie glauben, dass Hauptschüler/-innen bei der Ausbildungsplatzsuche benachteiligt werden oder bei einem höheren Schulabschluss des Vaters. Sie sinkt hingegen, wenn bereits in der Schulzeit Arbeitserfahrungen – z. B. durch einen Nebenjob – existieren. D. h. eine Abkehr von ihren Ausbildungsplänen und die Hinwendung zu einem weiteren Schulbesuch vollzieht sich bei Neuntklässlern und Neuntklässlerinnen – unabhängig von ihren momentanen Schulleistungen – eher aufgrund einer höheren Einschätzung ihrer künftigen schulischen Erfolgsaussichten als auch aufgrund der Befürchtung schlechterer Chancen auf dem Ausbildungsmarkt (Schnitzler/Granato 2016). Bereits bei der Analyse der Bildungsorientierungen zeigt sich bei Schülern und Schülerinnen am Ende der Pflichtschulzeit die Bedeutung, die die berufliche Orientierung, erste Erfahrungen in der Arbeitswelt, aber auch die Einschätzungen der Ausbildungsmarktchancen für eine realistische Orientierung auf eine betriebliche Ausbildung haben können.
Attraktivität von Berufen aus Sicht der Jugendlichen
Angesichts des Anstiegs unbesetzter betrieblicher Ausbildungsangebote untersucht das BIBB-Forschungsprojekt „Bildungsorientierungen“ auch, welche Bedingungen bei Ausbildungsangeboten gegeben sein müssen, um von Jugendlichen nachgefragt zu werden. Dabei geht es zum einen um Ausbildungsberufe und ihre Eigenschaften bzw. um die Merkmale, die Jugendliche Berufen zuschreiben (vgl. Kapitel C3.2, Schnitzler u. a. 2015, Eberhard/Granato 2016, Granato u. a. 2016, Granato/Milde/Ulrich 2018), aber auch um Ausbildungsbetriebe und die Erwartungen, die Jugendlichen an Betriebe haben (Gei/Eberhard 2017; Eberhard/Ulrich 2017).
Erwartungen, die Jugendliche an ihren künftigen Beruf haben bzw. Merkmale, die sie Berufen zuschreiben, lassen sich auf der Grundlage der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 herausarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die meisten Jugendlichen (zwischen 80%–90%) im künftigen Beruf gute Rahmenbedingungen für (eher bzw. sehr) wichtig halten: Dies gilt für ein hohes Einkommen, gute Arbeitsmarktchancen und gute Aufstiegsmöglichkeiten, aber auch für genügend Zeit für Freizeit bzw. Familie. Mit Blick auf die Tätigkeiten im künftigen Beruf ist es den Jugendlichen wichtiger mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten bzw. eigene Vorschläge im Beruf einzubringen als anderen Menschen durch den Beruf zu helfen bzw. häufig mit moderner Technik zu arbeiten (Eberhard/Granato 2016).
Deutliche Unterschiede zeigen sich, gerade bei den Rahmenbedingungen, zwischen den Berufen: Jugendliche erwarten bei Berufen mit Besetzungsproblemen in der Regel seltener als bei Berufen ohne Besetzungsprobleme ein hohes Einkommen. Auch bei den Erwartungen „berufliche Aufstiegschancen“ und „mit moderner Technik arbeiten“ zeigen sich systematische Unterschiede in den Einschätzungen der Jugendlichen zwischen Berufen mit und ohne Besetzungsproblemen (Schnitzler u. a. 2015).
Attraktivität von Betrieben aus Sicht der Jugendlichen
Welche Merkmale Jugendliche von einem Ausbildungsbetrieb erwarten, lässt sich auf der Grundlage der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2016 herauskristallisieren. An erster Stelle geht es den befragten Jugendlichen um das Potenzial und die Attraktivität des Betriebs als langfristiger Arbeitgeber, welches sich in einem guten Betriebsklima (93%), in sicheren Arbeitsplätzen (90%) sowie in sehr guten Übernahmechancen (86%) widerspiegelt. An zweiter Stelle wünschen sich die Ausbildungsstellenbewerber/-innen gute Rahmenbedingungen während der Ausbildung. Dazu gehören für sie eine gute Erreichbarkeit des Betriebes – sei es durch Wohnortnähe (75%) oder durch eine gute Anbindung an den öffentlichen Personen-Nahverkehr (80%) – sowie die Möglichkeit eines geregelten und auch in der Freizeit planbaren Lebens (z. B. Förderung der Vereinbarkeit von Freizeit und Ausbildung, 72%) (Gei/Eberhard 2017). Materielle Anreize, wie z. B. ein iPhone als Eintrittsgeschenk, haben hingegen nur eine nachgeordnete Bedeutung.
Welche Faktoren beeinflussen diese betrieblichen Präferenzen der Jugendlichen? Neben personalen Faktoren (wie Schulabschluss und Schulnoten) wurde die Ausbildungsmarktlage in der Heimatregion (gemessen über die Angebots-Nachfrage-Relation, d. h. die Zahl der Ausbildungsplatzangebote je 100 Nachfrager/-innen) als Einflussfaktor untersucht. In Regionen mit einer günstigeren Marktlage haben Ausbildungsbewerber/-innen höhere Erwartungen an die Betriebe. Gleichzeitig steigern auch höhere Schulabschlüsse und (sehr) gute Deutschnoten die Anspruchshaltung von Jugendlichen an einen möglichen Ausbildungsbetrieb. Dabei erweisen sich die Schulabschlüsse als bedeutsamer für die Wünsche von Ausbildungsbewerber/-innen an ihren künftigen Ausbildungsbetrieb als die Ausbildungsmarktlage vor Ort. Für die betriebliche Praxis weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass im Wettbewerb um ausbildungsinteressierte Jugendliche jene Betriebe erfolgreicher sein könnten, die den Jugendlichen langfristige Perspektiven bieten. Aber auch eine realistische Einschätzung der eigenen Marktposition auf Seiten der Jugendlichen kann einen Beitrag dazu leisten, einen (passenden) Ausbildungsbetrieb (Eberhard/Ulrich 2017) bzw. Ausbildungsberuf (Granato/Milde/Ulrich 2018, vgl. Kapitel C3.2) zu finden.
Bedeutung von Beruf und Berufswahl für die soziale Position und Identität
Die weitere Aufmerksamkeit des BIBB-Forschungsprojektes „Bildungsorientierungen“ richtet sich auf die Frage, welche Faktoren die Nichtbeachtung bzw. Nichtwahl von Ausbildungsberufen beeinflussen. Hier steht insbesondere die Frage nach der Bedeutung von Beruf und Berufswahl für die Stärkung des eigenen individuellen Selbstwertes im Vordergrund (vgl. Kapitel C3.2). Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt tragen dazu bei, dass in manchen Berufen viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können, während andere so stark nachgefragt werden, dass sich Jugendliche vergeblich bewerben (vgl. Kapitel A1.1.3). Von einer stark unterschiedlichen Nachfrage sind selbst Berufe betroffen, die sehr ähnliche Tätigkeitsprofile aufweisen. Hierzu zählen beispielsweise der Beruf „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ mit einer hohen Zahl unbesetzter Lehrstellen und der Beruf „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“, in dem umgekehrt viele Jugendliche bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos bleiben. Anhand der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 von Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen lässt sich aufzeigen, dass die Tätigkeitsprofile beider Berufe im Hinblick auf die Dimensionen „mit Menschen zusammenarbeiten“, „anderen Menschen helfen“ bzw. „mit moderner Technik arbeiten“ von den befragten Jugendlichen ähnlich eingeschätzt werden. Auch die Nähe zwischen dem, was die Jugendlichen im Hinblick auf die beruflichen Tätigkeiten von einem Beruf erwarten und den Tätigkeitsprofilen, die sie den untersuchten Berufen zuschreiben, ist bei beiden Berufen ähnlich hoch. Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen beiden Berufen allerdings bei anderen beruflichen Merkmalen, so bei der Einschätzung der Rahmenbedingungen des Berufs wie gute Verdienst-, Arbeitsmarkt- und Aufstiegsmöglichkeiten zugunsten des Berufs „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“. Im Hinblick auf die Bedürfnisse von Jugendlichen, dass die Berufswahl zur Stärkung ihrer sozialen Position und Identität beitragen möge, schneidet der Beruf „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“ dementsprechend günstiger ab. Nach Auffassung der befragten Jugendlichen würde die Wahl des Berufs „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“ sowohl in der eigenen Familie als auch bei Freunden auf eine signifikant größere Zustimmung stoßen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Jugendlichen – und wohl auch ihre Familien – mit diesem Beruf ein höheres Einkommen und bessere Aufstiegschancen verbinden. Der große Vorteil des Berufs „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ – seine sehr viel besseren Zugangschancen zum Ausbildungsmarkt – ist den Jugendlichen hingegen nicht bewusst. Vielmehr gehen sie davon aus, so ein zentrales Ergebnis des BIBB-Forschungsprojekts zu diesem Thema, dass ihre Zugangschancen in den Beruf „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“ zumindest gleich gut, wenn nicht sogar besser sind (Granato u. a. 2016).
Die Attraktivität der dualen Ausbildung insgesamt zu steigern, Differenzen in den Rahmenbedingungen der Ausbildungsberufe, wie Verdienst-, Arbeitsmarkt- und Aufstiegsmöglichkeiten anzugleichen, und damit Ausbildungsberufe mit Besetzungsproblemen in den Augen von Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen – insbesondere derjenigen mit weiterführenden Schulabschlüssen – attraktiver zu gestalten, könnte sich künftig als förderlich für die Abschwächung von Besetzungsproblemen erweisen (Ulrich 2016, Granato/Milde/Ulrich 2018). Hierauf verweisen auch die folgenden Ergebnisse des BIBB-Forschungsprojektes „Bildungsorientierungen“ zur Bedeutung des Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung bei der Berufswahl von Jugendlichen (vgl. Kapitel C3.2).
(Mona Granato, Joachim Gerd Ulrich)