Eine höhere Mobilität von Jugendlichen gilt als Schlüsselfaktor, um unterschiedliche regionale Ausbildungsmarktverhältnisse (Kleinert 2015, Kleinert/Kruppe 2012, Ulrich 2013) auszugleichen und „Passungsprobleme zwischen Bewerbern/Bewerberinnen und Unternehmen regional und berufsfachlich nachhaltig zu verringern“ (Allianz für Aus- und Weiterbildung 2014, S. 3). Tatsächlich weichen die regionalen Ausbildungsmarktverhältnisse, gemessen an den offiziellen Angebots-Nachfrage-Relationen, beträchtlich voneinander ab. Regionen mit einem starken Überhang an Ausbildungsplatzangeboten bzw. an unbesetzten Plätzen wie z. B. Ostbayern stehen Regionen mit deutlichem Nachfrageüberhang und vielen erfolglosen Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen wie z. B. im Ruhrgebiet gegenüber (vgl. Matthes u. a. 2017b und Kapitel A1.1).
In welchem Ausmaß allerdings mobile Jugendliche bereits heute zum Ausgleich von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage beitragen, ist bislang nicht bekannt. Denn die amtlichen, nach § 86 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) berechneten Angebots-Nachfrage-Relationen (ANR) spiegeln bereits das Resultat erfolgreicher Mobilität wider, ohne selbst Hinweise liefern zu können, wie die von Mobilität unbeeinflussten Relationen aussähen (Bundesinstitut für Berufsbildung 2016, S. 96 f.).
In früheren Ausgaben des Datenreports zum Berufsbildungsbericht wurde mithilfe der BA-Beschäftigtenstatistik der basale Versorgungsgrad mit Ausbildungsplätzen für die Arbeitsagenturbezirke ermittelt (vgl. BIBB-Datenreport 2016, Kapitel A3.2.1, BIBB-Datenreport 2017, Kapitel A8.2). Dieser wird definiert als das Verhältnis zwischen der Zahl der vor Ort bestehenden Ausbildungsverhältnisse und der Zahl aller vor Ort wohnenden Auszubildenden (unabhängig davon, wo diese ausgebildet werden). Der basale Versorgungsgrad ist jedoch als Marktindikator nicht geeignet, da er alle erfolglosen Marktteilnahmen ignoriert, sowohl vonseiten der Betriebe als auch vonseiten der Jugendlichen.
Ansatz zur Schätzung der Marktverhältnisse „vor“ Mobilität
Matthes/Ulrich (2017) entwickelten deshalb einen Ansatz zur Schätzung der „mobilitätsbereinigten Angebots-Nachfrage-Relation“ (im Folgenden kurz: mb_ANR), bei dem auch erfolglose Ausbildungsstellenbewerber/-innen und unbesetzte betriebliche Ausbildungsplätze Berücksichtigung finden. Die mb_ANR hilft somit im Vergleich zur amtlichen Angebots-Nachfrage-Relation (ANR) zu verstehen, wie Mobilität der Jugendlichen die Ausbildungsmarkt- und Versorgungslagen in den gut 150 Agenturbezirken beeinflusst.
Berechnung der mobilitätsbereinigten Angebots-Nachfrage-Relation (mb_ANR)
Ausgangspunkt der mb_ANR-Berechnungen ist die amtliche ANR. Definiert wird die amtliche ANR in Anlehnung an § 86 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) als Zahl der Ausbildungsplatzangebote in der Region je 100 Ausbildungsplatznachfrager/-innen. Zu ihrer Berechnung werden 4 Teilelemente benötigt: (1) das erfolgreich besetzte Ausbildungsplatzangebot, das mit der Zahl der vom 01.10. bis zum 30.09. in der Region neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge identisch ist, (2) die bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) zum Stichtag 30.09. in der Region registrierten unbesetzten Ausbildungsstellen als Indikator für das erfolglose Angebot, (3) die erfolgreiche Ausbildungsplatznachfrage, die wie das erfolgreiche Angebot mit den in der Region neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gleichgesetzt wird, sowie (4) die bei der BA registrierten Ausbildungsstellenbewerber/-innen aus der Region, die zum Stichtag 30.09. noch auf Ausbildungsplatzsuche sind, als Indikator für die erfolglose Nachfrage.
Um nun die mb_ANR zu schätzen, muss von den oben genannten 4 Komponenten lediglich die Komponente (3), also die erfolgreiche Ausbildungsplatznachfrage, neu geschätzt werden. Denn die übrigen 3 Komponenten beinhalten ausschließlich Marktteilnahmen von Betrieben und Jugendlichen, die aus der betreffenden Region selbst stammen. In der erfolgreichen Ausbildungsplatznachfrage vermengen sich dagegen Nachfrage von inner- und außerhalb der Region, da sie wie das erfolgreiche Ausbildungsplatzangebot betriebsortbezogen und nicht entlang des Wohnortes der Jugendlichen ermittelt wird (Flemming/Granath 2016, Ulrich 2012a, S. 55). Bei den vor Ort erfassten erfolgreichen Ausbildungsplatznachfragenden sind somit auch die Jugendlichen enthalten, die von auswärts kommen, und es fehlen diejenigen Einheimischen, die ihre Ausbildung woanders antreten.
Die wohnortbezogene Nachfrage kann jedoch mithilfe der BA-Beschäftigtenstatistik geschätzt werden, welche Daten zum Betriebs- und Wohnort der Arbeitnehmer/-innen enthält und zudem die Art und Dauer der Beschäftigung ausweist. Dabei wird hier auf die Teilmenge jener sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zurückgegriffen, die zu dem für die Bilanz relevanten Stichtag 30.09. nicht länger als ein Jahr Auszubildende in ihrem Betrieb sind (Bundesagentur für Arbeit 2018c). Zur Schätzung der wohnortbezogenen Nachfrage werden die aus der BA-Beschäftigtenstatistik bekannten Verhältnisse auf die erfolgreiche Nachfrage, wie sie anhand der BIBB-Erhebung über neu abgeschlossene Ausbildungsverträge ermittelt wurde, projiziert. Detaillierte Erläuterungen zum Schätzverfahren, seinen Restriktionen und zur prognostischen Validität der mobilitätsbereinigten Angebots-Nachfrage-Relation (mb_ANR) finden sich bei Matthes/Ulrich 2017.
Ergebnisse für 2016
Wie Schaubild A8.2.1-1 im Überblick und Tabelle A8.2.1-1-Internet mit den Einzelwerten für die Arbeitsagenturbezirke zeigen, führt die Mobilität der Auszubildenden zu einer starken Angleichung der Verhältnisse auf den regionalen Ausbildungsmärkten.
So ließen sich z. B. für 2016 „vor“ Mobilität 6 Arbeitsagenturbezirke mit extremen Ausbildungsmarktlagen identifizieren. Hierzu zählten 3 Regionen, in denen weniger als 70 Ausbildungsplatzangebote auf 100 Nachfrager/-innen entfielen (Recklinghausen: 65,4; Brühl: 68,5; Detmold: 68,9), sowie am anderen Ende der Verteilung 3 Bezirke, in denen mehr als 140 Ausbildungsplatzangebote 100 Nachfragenden gegenüberstanden (München: 141,3; Düsseldorf: 150,6; Frankfurt/Main: 154,6). „Nach“ Mobilität fällt dagegen keine einzige Region mehr in diese Kategorien. Vielmehr ist die Verteilung der ANR-Werte „nach“ Mobilität viel schmaler. Fast alle ANR-Werte „nach“ Mobilität (148 Werte bzw. 96,1%) variieren „lediglich“ zwischen 80 und 110; „vor“ Mobilität waren es nur 106 Werte bzw. 68,8%.199
Somit sind die Effekte der bereits heute von den Jugendlichen praktizierten Mobilität durchaus beträchtlich, und es schließt sich die Frage an, welche Regionen besonders deutlich von der Mobilität der Jugendlichen profitieren. Hinweise hierzu finden sich in Tabelle A8.2.1-2.
Zuvorderst kommt die Mobilität demnach denjenigen Regionen zugute, deren Angebots-Nachfrage-Relation ursprünglich sehr niedrig ausfällt Tabelle A8.2.1-2. Durch eine im Schnitt starke Abwanderung verbunden mit nur wenig Einpendlern von auswärts verbesserte sich 2016 das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in den 3 Regionen mit einer mb_ANR von unter 70 um durchschnittlich 16,6 Punkte und in den 31 Regionen mit einer mb_ANR zwischen 70 und 80 um durchschnittlich 10,0 Punkte.
Deutliche Verschlechterungen, bedingt durch eine hohe Zahl von Einpendlern, sind dagegen in den Regionen mit einer mb_ANR über 110 zu beobachten. Für die Ausbildungschancen der einheimischen Jugendlichen stellen diese mobilitätsbedingten Veränderungen der Marktlagen zunächst einen Nachteil dar, doch bergen sie auch Vorteile. Denn ohne die Einpendler von außen würden in diesen Regionen sehr viele Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Dies wäre wiederum mit der Gefahr verbunden, dass sich die Betriebe mit chronischem Bewerbermangel vom Markt zurückziehen und somit Ausbildungsangebote verlorengehen. 2016 glichen Einpendler in 10 der 12 am stärksten von Angebotsüberhängen geprägten Arbeitsagenturbezirke (mb_ANR in all diesen Regionen > 112,5) die fehlende örtliche Nachfrage so weit aus, dass es zumindest rechnerisch doch noch genügend Nachfrage für die Betriebe, Praxen und Verwaltungen gab. Sofern auch in diesen Regionen dennoch am Ende des Jahres Ausbildungsplätze unbesetzt waren (vgl. Kapitel A1.1), waren demnach hierfür im Wesentlichen berufliche und nicht regionale Passungsprobleme verantwortlich.
Wie Tabelle A8.2.1-2 weiterhin zeigt, spielt auch die Einwohnerdichte für die Entwicklung der Ausbildungsmärkte eine Rolle. In den 20 Bezirken mit mehr als 1.000 Personen je qkm lag die ANR im Schnitt um 17,9 Punkte unter der mb_ANR. Weitere, hier nicht allesamt ausgewiesene Berechnungen verweisen auf die Ursachen: So werden in diesen großstädtischen Räumen im Schnitt auch höhere mb_ANR-Werte erzielt (2016: 108,9). Zugleich überwiegt hier – was dem Interesse der Jugendlichen entgegenkommt – die Ausbildung in Dienstleistungsberufen. Beide Aspekte – ein großes und attraktives Angebot – stimulieren die auswärtige Nachfrage ebenso wie eine leichte Erreichbarkeit dieser Angebote infolge der i . d. R. gut ausgebauten Verkehrswege dorthin (vgl. auch Bogai/Seibert/Wiethölter 2008, S. 5).
Somit wird auch verständlich, warum sich in allen 3 Stadtstaaten unter den 16 Bundesländern die Ausbildungsmarktverhältnisse durch Mobilität beträchtlich verschlechtern Tabelle A8.2.1-2. Dagegen werden die regionalen Arbeitsagenturbezirke in den Flächenländern Brandenburg und Sachsen-Anhalt im Schnitt deutlich entlastet. Die mobilitätsbedingte Verbesserung für Brandenburg war 2016 so groß, dass die amtliche ANR dort l um 8,9 Punkte höher ausfiel als in Hamburg, obwohl der ursprüngliche mb_ANR-Wert um 26,9 Punkte niedriger als in Hamburg war.
Schaubild A8.2.1-1: Verteilung der Angebots-Nachfrage-Relationen in den 154 Regionen Deutschlands (Arbeitsagenturbezirke) „vor“ und „nach“ Mobilität im Jahr 2016
Tabelle A8.2.1-2: Mittlere Ausprägungen der beiden ANR-Werte differenziert nach Niveaustufen der mobilitätsbereinigten ANR, Einwohnerdichte und Bundesland (Stichtag: 30.09.2016)
Einflüsse der Mobilität auf die Anteile erfolgloser Marktteilnahmen
Durch die Verwendung der mb_ANR anstelle der amtlichen ANR sollten sich Mobilitätseffekte, ausgelöst durch ungünstige Ausbildungsmarktlagen, mit deutlich höherer Plausibilität nachzeichnen und kontraintuitive Ergebnisse vermeiden lassen. Dies ist auch der Fall. So korreliert nun die Ausbildungsmarktlage „vor“ Mobilität signifikant positiv mit der Einpendlerquote in die Region (hier definiert als der in der BA-Beschäftigtenstatistik ausgewiesene Anteil der Ausbildungsplätze in der Region, der von Auswärtigen besetzt wurde): Je günstiger die Ausbildungsmarktlage, desto höher die Einpendlerquote (r = +0,363, p = 0,000). Würde anstelle der mb_ANR die amtliche ANR verwendet, wäre der Zusammenhang entgegen der intuitiven Erwartung signifikant negativ ausgefallen (r = -0,270; p = 0,001). Weitere Beispiele dafür, dass sich mithilfe der mb_ANR plausiblere Mobilitätseffekte nachzeichnen lassen als unter Verwendung der amtlichen ANR, finden sich bei Matthes/Ulrich 2017, S. 582ff.
An dieser Stelle sollen mithilfe der mb_ANR die rechnerischen Einflüsse der Mobilität auf die Anteile erfolgloser Marktteilnahmen betrachtet werden. Zu erwarten wäre, dass die regionale Quote der erfolglosen Ausbildungsplatznachfrage umso niedriger ausfällt, je mehr Ausbildungsplatzangebote auf die einheimischen Ausbildungsplatznachfrager/-innen fallen und je höher die Auspendlerquote ist (das ist der Anteil der in der BA-Beschäftigtenstatistik ausgewiesenen Auszubildenden, die ihre Ausbildung nicht in ihrer Wohnregion, sondern in einem anderen Arbeitsagenturbezirk absolvieren). Steigernde Wirkung auf den Anteil der erfolglosen Ausbildungsplatznachfrage vor Ort sollte dagegen eine höhere Einpendlerquote haben. Was die Quote der unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplatzangebote betrifft, sollten gegenläufige Effekte auftreten. Eine höhere Angebots-Nachfrage-Relation „vor“ Mobilität und eine höhere Auspendlerquote sollten auch den Anteil der unbesetzten Plätze in die Höhe treiben, während eine höhere Einpendlerquote den Anteil senken müsste. Wie Tabelle A8.2.1-3 zeigt, lassen sich diese Annahmen unter Verwendung der mb_ANR bestätigen.
Tabelle A8.2.1-3: Statistische Einflussgrößen auf die Anteile erfolgloser Marktteilnahmen in den Arbeitsagenturbezirken Deutschlands im Jahr 2016
Eine „vor“ Mobilität hohe Angebots-Nachfrage-Relation in einer Region ist also für die dort lebenden ausbildungsinteressierten Jugendlichen grundsätzlich von Vorteil. Konterkariert werden kann dieser Effekt jedoch durch eine starke Einpendlerquote verbunden mit einem deutlich geringeren Anteil an Auspendlern. Der Arbeitsagenturbezirk Frankfurt/Main ist hierfür ein gutes Beispiel: 2016 standen „vor“ Mobilität den knapp 5.800 Ausbildungsplatzangeboten schätzungsweise nur 3.700 dort lebende Ausbildungsplatznachfrager/-innen gegenüber. Der starke Nachfragegewinn durch zusätzliche ausbildungsinteressierte Jugendliche von außerhalb war nun mit dem Preis verbunden, dass ein Teil der einheimischen Jugendlichen im Wettbewerb mit den auswärtigen unterlag. Denn mobile Jugendliche bringen oft Marktvorteile wie z. B. höhere Schulabschlüsse mit, die ihnen überdurchschnittlich gute Bewerbungschancen bescheren (BIBB-Datenreport 2016, Kapitel A3.2.2). So blieben 2016 in Frankfurt/Main trotz der („vor“ Mobilität) sehr guten Ausgangslage letztlich knapp 700 einheimische Nachfrager/-innen bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos, und die amtliche ANR lag 2016 nur noch bei 93,1.
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Die geringere Varianz lässt sich auch an den Spannweiten (Differenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Wert der Verteilung) ablesen: Gäbe es keine Mobilität, hätten die Angebots-Nachfrage-Relationen zwischen mb_ANR = 65,4 im Arbeitsagenturbezirk Recklinghausen und 154,6 im Bezirk Frankfurt/Main geschwankt (Differenz: 89,1 Punkte). Durch die Mobilität der Jugendlichen schwanken sie dagegen nur noch zwischen ANR = 78,9 im Bezirk Oberhausen und 116,2 in der Region Regensburg (Differenz: 37,3).