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Welche Folgen der Arbeitsplatzabbau bzw. -aufbau für die Fachkräftesituation auf der beruflichen Ebene haben wird, hängt von der beruflichen Passung von Arbeitsangebot und -nachfrage ab. Beim Vergleich von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage auf Berufsebene gilt es zu berücksichtigen, dass die Entwicklungen auf beiden Seiten des Marktes keineswegs statisch und voneinander unabhängig verlaufen, sondern Austauschprozesse stattfinden (vgl. Erläuterung zu BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsprojektionen). So entscheidet zum einen das Wachstum der Branche über den Expansionsbedarf eines bestimmten Berufs mit, zum anderen kann sich aber auch der Mix an Berufen innerhalb einer Branche über die Zeit verändern. Hierbei nehmen z. B. technologische Veränderungen, aber auch die Lohnentwicklung eines Berufs Einfluss. Die Lohnhöhe steht wiederum mit dem zur Verfügung stehenden Angebot an Arbeitskräften mit den entsprechenden beruflichen Qualifikationen in Zusammenhang. In der Folge ist nicht jede Person während ihres gesamten Erwerbslebens in ihrem erlernten Beruf erwerbstätig; vielmehr ergeben sich aufgrund ihrer tätigkeitspezifischen Kenntnisse mehrere Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese berufliche Mobilität wird in der vorliegenden Projektion in Form von beruflichen Flexibilitäten berücksichtigt, die angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person mit einem bestimmten erlernten Beruf den erlernten bzw. einen anderen Beruf ausübt (vgl. Maier u. a. 2018). 

Schaubild C2.3-1 zeigt die Bilanzierung des Arbeitskräftebedarfs und -angebots nach Berufsbereichen unter Berücksichtigung der beruflichen Flexibilität für die QuBe-Basisprojektion. Dabei handelt es sich für das Jahr 2015 um tatsächliche Werte und bei den Folgejahren (gekennzeichnet mit *) um Projektionsergebnisse. Bereits die Betrachtung auf einer hohen Aggregationsstufe zeigt, dass bei anhaltenden Entwicklungen und bestehenden Verhaltensweisen der Wirtschaft und der Erwerbspersonen Passungsprobleme zwischen Angebot und Nachfrage auf fachlicher Ebene zunehmen werden. 

Dabei stellt sich die Frage, inwieweit drohende Passungsprobleme infolge der Digitalisierung der Wirtschaft verstärkt oder abgemildert werden. Schaubild C2.3-2 zeigt die 10 Berufshauptgruppen, bei denen sich beim Vergleich von Szenario Digitalisierte Arbeitswelt zur QuBe-Basisprojektion die stärksten Anstiege bzw. Rückgänge bei der Arbeitsnachfrage ergeben. Die stärksten Rückgänge an Arbeitsplätzen sind in den Berufshauptgruppen „(62) Verkaufsberufe“, „(51) Verkehr und Logistik“, „(52) Führer von Fahrzeug und Transportgeräten“ sowie bei den „(54) Reinigungsberufen“ zu erwarten. In all diesen Berufshauptgruppen finden vergleichsweise monotone Tätigkeiten statt, weshalb sie ein hohes Ersetzbarkeitspotenzial313 durch digitale Innovationen aufweisen (vgl. Lewalder u. a. 2018). Die Berufshauptgruppe, die am stärksten von der Transformation der deutschen Wirtschaft zu einer Digitalen Arbeitswelt profitiert, ist die Berufshauptgruppe „(43) Informatik und andere IKT-Berufe“. Die Zuwächse der verbleibenden Berufshauptgruppen fallen dagegen eher gering aus. 

Schaubild C2.3-1: Differenz zwischen Erwerbspersonen und Erwerbstätigen nach Berufsbereichen (Einsteller der KldB 2010) von 2015 bis 2035 unter Berücksichtigung beruflicher Ausgleichsprozesse für die QuBe-Basisprojektion (in Tsd. Personen)

Schaubild C2.3-2: Differenz der Erwerbstätigenzahl (Szenario Digitalisierte Arbeitswelt – QuBe-Basisprojektion) für die 10 Berufshauptgruppen mit den stärksten Rückgängen/Zugewinnen 2035 (in Tsd. Personen)

Die reine Beurteilung der Veränderung der Fachkräftesituation auf Personenebene greift allerdings zu kurz. Denn rechnerische Engpässe auf Berufsebene bedeuten nicht, dass keine Personen für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit gefunden werden können. Vielmehr hängt die Rekrutierungssituation von Betrieben von einigen Nebenbedingungen (z. B. Produktionsprozesse oder Attraktivität der Arbeitsplätze) ab, die nicht vollständig im Modellkontext abgebildet werden. Daher wurde im Rahmen der fünften Projektionswelle zur Beurteilung der Fachkräftesituation ein Fachkräfteindikator (FKI) entwickelt.

Indikatoren zur Bestimmung der Fachkräftesituation

Um einen Überblick über die mögliche Fachkräftesituation sowohl im Berufs- als auch im Zeitvergleich zu bekommen, wurde mit der fünften Welle ein Fachkräfteindikator geschaffen. Diesem liegen 3 Fragestellungen zugrunde:

  • In welchen Berufen sind die Unterschiede zwischen Arbeitsangebot und -bedarf absolut und relativ am größten?
  • Wie groß ist die Möglichkeit, gelernte Fachkräfte für den Beruf zu gewinnen? 
  • Wie hoch ist der Einarbeitungsaufwand für Personen mit einer fachfremden Qualifikation?

Diesen Fragen werden konkret messbare Kennzahlen zugeordnet und in einem Fachkräfteindikator (FKI) kombiniert, sodass für jeden Beruf die zu erwartende Fachkräftesituation und deren Veränderung dargestellt werden kann. Der FKI besteht aus 2 Komponenten: einem Volumenindikator (VI) und einem strukturellen Indikator (SKI), die gleich gewichtet in den FKI eingehen. Der Volumenindikator kombiniert eine Arbeitskräftebilanz nach Stunden in absoluten und relativen Termen. Der SKI berücksichtigt zugleich das fachlich qualifizierte Angebot aus dem Bildungssystem (Qualifikationsindikator – QI) sowie die Substituierbarkeit von fachlichen Abschlüssen für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit (Substitutionsindikator – SI). Die Berechnungsweisen der Einzelindikatoren sind in Maier u. a (2018) dargestellt. Die Werte der Einzelindikatoren werden anschließend zu einem Fachkräfteindikator aufaddiert. Dieser kann wie folgt interpretiert werden: Je mehr Punkte ein Beruf aufweist, desto einfacher stellt sich die Fachkräftesituation für die Betriebe dar und desto höher ist die Konkurrenz für Beschäftigte; je weniger Punkte, desto schwieriger gestaltet sich die Rekrutierung. Die theoretische Wertespanne des FKI reicht von 1 bis 100. Für das Erhebungsjahr 2015 liegt die empirische Spannbreite auf Berufsgruppenebene zwischen 33 („Human- und Zahnmedizin“) und 73 („Reinigung“), der Mittelwert bei 51,7.314

Tabelle C2.3-1 gibt einen Überblick über Interpretationsmöglichkeiten des FKI. Die dargestellten Handlungsnotwendigkeiten beschränken sich nicht auf den dargestellten Wertebereich. Veränderungen der Rekrutierungspraxis oder der beruflichen Ziele können auch in Berufen sinnvoll sein, die nicht in den entsprechenden Wertebereich des FKI fallen. In der Tendenz werden Anpassungen aber stärker notwendig, je weiter sich der FKI vom mittleren Wert entfernt. Eine schwierige Fachkräftesituation für Betriebe bedeutet zudem nicht, dass sich für Personen mit einem entsprechenden erlernten Beruf stabile und/oder attraktive Beschäftigungsaussichten ergeben. So können unattraktive Arbeitsbedingungen aus Beschäftigtensicht auch Ursache für Rekrutierungsschwierigkeiten auf Betriebsebene sein.

Tabelle C2.3-2 und Tabelle C2.3-3 stellen den FKI für das Szenario Digitalisierte Arbeitswelt sowie die Veränderungen des Indikators gegenüber der QuBe-Basisprojektion für die tiefergehende Aggregatsebene der Berufsgruppen (3-Steller der KldB 2010) dar. Die Fachkräftesituation wird sich für Arbeitgeber infolge der Digitalisierung vor allem in den Berufsgruppen „(512) Überwachung, Wartung, Verkehrsinfrastruktur“ und „(621) Verkauf (ohne Produktspezialisierung)“ entspannen Tabelle C2.3-2. Insbesondere in den Verkaufsberufen wirkt die Digitalisierung einer Verschlechterung der Fachkräftesituation infolge des Rückgangs von Erwerbspersonen in dieser Berufsgruppe entgegen (vgl. Kapitel C2.1). Bei „(512) Überwachung, Wartung, Verkehrsinfrastruktur“, „(112) Tierwirtschaft“ (FKI = 39) und „532 Polizeivollzugs- und Kriminaldienst, Gerichts- und Justizvollzug“ (FKI = 35) deutet der FKI im Jahr 2035 aber weiterhin auf Fachkräfteengpässe hin. Hervorzuheben ist die Situation zudem in „(831) Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehungspflege“. Denn hierbei handelt es sich keineswegs um Berufe, die ein hohes Ersetzbarkeitspotenzial aufweisen. Im Gegenteil: Die Nachfrage nach Erwerbstätigen in dieser Berufsgruppe steigt im Szenario Digitalisierte Arbeitswelt sogar leicht an. Aufgrund der modellierten Lohnanpassungen bei Engpässen und daraus folgenden Anpassungen der beruflichen Mobilität nimmt das Arbeitsangebot in dieser Berufsgruppe jedoch stärker zu als der Bedarf.

Die Rekrutierung von Fachkräften erschwert sich für Arbeitgeber infolge der Digitalisierung insbesondere in Berufen, die direkt mit der Umsetzung der Digitalisierung verbunden sind. So wird sich durch den steigenden Bedarf an IT-Dienstleistungen die Rekrutierung in den Berufsgruppen „(434) Softwareentwicklung und Programmierung“, „(432) IT-Systemanalyse, Anwenderberatung IT-Vertrieb“, „(431) Informatik“ und „(433) IT-Netzwerktechnik-Koordination, -Administration, -Organisation“, im Vergleich zur Basisprojektion schwieriger gestalten Tabelle C2.3-3. Insbesondere die Berufsgruppe „(432) IT-Systemanalyse, Anwenderberatung IT-Vertrieb“ spielt in diesem Diffusionsprozess eine bedeutende Rolle. Hier deutet ein FKI von 40 auf Fachkräfteengpässe hin. Weitere Engpässe sind 2035 in den Berufsgruppen „(816) Psychologie, nicht ärztl. Psychotherapie (FKI = 37)“ und der „(271) Technischen Forschung und Entwicklung“ (FKI = 44) erkennbar. 

Tabelle C2.3-1: Interpretationsmöglichkeit des Fachkräfteindikators FKI unter Berücksichtigung der Projektionsannahmen

Tabelle C2.3-2: 15 Berufsgruppen mit der stärksten Erhöhung des Fachkräfteindikators 2035 im Vergleich zur QuBe-Basis (vereinfachte Rekrutierung für Arbeitgeber)1

Tabelle C2.3-3: 15 Berufsgruppen mit der stärksten Verringerung des Fachkräfteindikators 2035 im Vergleich zur QuBe-Basisprojektion (erschwerte Rekrutierungssituation für Arbeitgeber)

  • 313

    Das BIBB-Ersetzbarkeitspotenzial (vgl. Lewalder u. a. 2018) gibt an, inwieweit die Tätigkeiten eines Berufs durch maschinelle Prozesse ersetzt werden können. Die Berechnungen basieren auf den Selbsteinschätzungen von 20.000 Erwerbstätigen hinsichtlich ihrer Arbeitsaufgaben und den von ihnen durchgeführten Tätigkeiten.

  • 314

    Die Berechnung des Mittelwerts erfolgt anhand einer Gewichtung mithilfe des Arbeitsvolumens nach Beruf.