Auch aus internationaler Perspektive stellt das Schwerpunktthema des diesjährigen Datenreports „Digitalisierung“ eines der Megathemen für die Berufsbildung in den kommenden Jahren dar. Das Thema wird nicht nur in Deutschland, sondern in allen anderen Ländern Europas und von den wichtigen Wettbewerbern aufgegriffen. Für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche werden wesentliche Auswirkungen antizipiert. Insbesondere für die Arbeitswelt von morgen werden erhebliche Veränderungen erwartet (World Economic Forum 2018). Da damit auch die Inhalte und Formen der beruflichen Bildung betroffen sind, soll der Herausforderung der Digitalisierung auch durch Maßnahmen im Bildungssystem begegnet werden.
Im Folgenden werden die Herausforderung der Digitalisierung für 2 benachbarte Länder nachgezeichnet: Österreich und die Schweiz. Diese beiden Länder wurden ausgewählt, da sie Deutschland in vielerlei Hinsicht – vor allem im Hinblick auf das Berufsbildungssystem – ähnlich sind. Nach einem Überblick über die wichtigsten Konzepte in der internationalen Diskussion über die Berufsbildung (vgl. Kapitel D2.1) und Befunde auf internationaler Ebene (vgl. Kapitel D2.2) zeigen wir auf, welche Potenziale prognostiziert werden und welche Effekte der Digitalisierung auf den Arbeitsmärkten der 3 Länder bereits tatsächlich sichtbar geworden sind. Dabei wird auch die Entwicklung der Tätigkeitstruktur betrachtet, da durch die Einteilung in Routine- und Nicht-Routinetätigkeiten eine deskriptive Annäherung an die Wirkung der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt und die Beschäftigung hergestellt werden kann (vgl. Kapitel D2.3). Dann wenden wir uns der Frage zu, inwieweit in diesen Ländern bereits Veränderungen in der Organisation und Ordnung der Berufsbildung im Hinblick auf die Digitalisierung eingeleitet worden sind (vgl. Kapitel D2.4). Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf jüngere Entwicklungen. Schließlich ist die Einführung von digitalen Technologien für die Berufsbildung kein vollständiges Neuland. Man denke zum Beispiel an die Einführung der modernen Bürotechnologien in den 1980er-Jahren, die Reformen der Metall- und Elektroberufe der späten 1980er-Jahre und die Einführung der sogenannten IT-Berufe in den 1990er-Jahren. Zum Abschluss werden in Kapitel D2.5 die Befunde aus Österreich, der Schweiz und Deutschland (vgl. Kapitel C) einander gegenübergestellt.
Bevor die Entwicklungen in den ausgewählten Ländern genauer dargestellt werden, sollen zunächst wichtige Konzepte in der Diskussion um Digitalisierung noch einmal aus international vergleichender Perspektive aufgegriffen werden. Außerdem wird in Kapitel D2.2 auf wichtige berufsbildungspolitische Initiativen auf der Ebene der Europäischen Union eingegangen.
Arbeitsmarktökonomische Konzepte zur Digitalisierung in der internationalen Diskussion – Schwerpunkt: Substitution und Polarisierung
Die Kapazität und die Art und Weise, mit den Herausforderungen der Digitalisierung umzugehen, unterscheidet sich von Volkswirtschaft zu Volkswirtschaft. Wesentliche Bestimmungsfaktoren hierfür sind neben anderen die Entwicklung der Technologie selbst, aber auch die Art und Weise, wie Arbeit und Ausbildung in der jeweiligen Volkswirtschaft organisiert sind.
Die prominenteste Studie zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt ist die Studie von Benedikt Frey und Carl Osborne, die in ihrem vielzitierten Beitrag (Frey/Osborne 2013) eine Substitution beruflicher Tätigkeiten von knapp 50% veranschlagen. Im Hinblick auf den internationalen Vergleich sind hierbei 2 Aspekte hervorzuheben: zum einen das Konzept der „Substituierbarkeit“ von beruflichen Tätigkeiten und zum anderen die Tatsache, dass sich die Studie der beiden auf die Strukturen am amerikanischen Arbeitsmarkt bezieht. Die Annahmen einer Substituierbarkeit von Tätigkeiten basiert in allen jüngeren ökonomischen Ansätzen auf dem sogenannten Task-Ansatz344 in der Arbeitsmarktökonomie (Autor/Levy/Murnane 2003). Um einen präziseren Eindruck der Auswirkung von Qualifikationen und technologischen Rationalisierungsprozessen auf Löhne und Arbeitsplätze zu gewinnen, befasst sich die moderne Arbeitsmarktökonomie nicht mit (Ausbildungs-)Berufen, sondern mit Erwerbsberufen oder einzelnen Tätigkeiten am Arbeitsplatz.
Bei den Erwerbsberufen wird auf der einen Seite zwischen solchen, die sich durch ein hohes Maß an Routine, und solchen, die sich durch sogenannte Nicht-Routinetätigkeiten auszeichnen, differenziert. Auf der anderen Seite werden Tätigkeiten nach dem kognitiven Anforderungsgehalt differenziert (kognitiv vs. manuell). Grundsätzlich gilt bei diesem Ansatz: Je geringer der kognitive Anforderungsgrad und je höher der Routineanteil einer Tätigkeit, desto eher kann der jeweilige „Job“ durch Technologie ersetzt werden. Auf dieser Basis fußt letztlich auch der Ansatz von Frey und Osborne. Das spezifische an dieser Arbeit ist nun, dass die Möglichkeit der Substituierbarkeit von 702 Erwerbsberufen v. a. auf den Prognosen von Technologieexperten/-expertinnen über eine Auswahl von 70 beruflichen Tätigkeitsbündeln beruhte. Hieraus ist dann für alle 702 Berufe eine Substitutionswahrscheinlichkeit errechnet worden. Hauptkritik an der Studie ist, dass die befragten Experten/Expertinnen u. U. die technologischen Potenziale überschätzen. In verschiedenen Studien wurde der Ansatz auf den deutschen Arbeitsmarkt übertragen. Dafür musste der Ansatz der Studie für die Strukturen auf dem deutschen Arbeitsmarkt modifiziert werden, berufliche Tätigkeiten werden hier anders erfasst und auch der Anteil an hoch, mittel und einfach Qualifizierten ist in Deutschland anders geartet als in den USA. Im Prozess der Übertragung kommen die Forscher/-innen je nach Modifikationen im Grundansatz zu ganz unterschiedlichen Schlüssen und Prognosen. So kommen Bonin/Gregory/Zierahn (2015) in ihrer Adaption des Ansatzes zu einer Quote von stark durch Substituierung bedrohten Berufen auf 42%. Der Wert liegt also nicht allzu weit von den von Frey/Osborne für den amerikanischen Arbeitsmarkt erwarteten Werten entfernt. Das Substituierbarkeitspotenzial nach Dengler und Matthes (Dengler/Matthes 2015; Dengler/Matthes 2018; Dengler/Matthes/Wydra-Somaggio 2018) modelliert das Ausmaß, inwieweit Berufe durch ihre Routinehaftigkeit gegenwärtig potenziell durch den Einsatz von Computern oder computergesteuerten Maschinen ersetzt werden könnten. Für jeden Beruf wird dies durch den Anteil der Tätigkeiten definiert (Datenbasis Expertendatenbank BERUFENET), der schon heute von Computern oder computergesteuerten Maschinen nach programmierbaren Regeln erledigt werden könnte (Dengler/Matthes 2015, S. 2f.). Im Gegensatz zum „Berufsansatz“ von Frey/Osborne wird allerdings davon ausgegangen, dass nicht ganze Berufe, sondern einzelne Arbeitsaufgaben durch Technologien automatisiert werden. Somit wird einer Überschätzung der Automatisierbarkeit von Arbeitsplätzen entgegengewirkt, da Berufe, die als Hochrisikobeschäftigungen bezeichnet werden, oft noch einen erheblichen Teil der schwer zu automatisierenden Aufgaben enthalten (Arntz/Gregory/Zierahn 2016, S. 4). In Bezug auf den Task-Ansatz haben daher weniger Arbeitsplätze entweder sehr hohe oder sehr niedrige Automatisierungspotenziale, wenn man die Variation der Tätigkeitsstrukturen innerhalb der Berufe berücksichtigt (Arntz/Gregory/Zierahn 2016, S. 14).
Die den Substitutionsprognosen zugrunde liegenden ökonomischen Modelle sind also sehr unterschiedlich und häufig stark auf den amerikanischen Arbeitsmarkt bezogen, der sich z. B. auch durch eine höhere Dichte an Akademikern/Akademikerinnen und Führungskräften auszeichnet, während in Deutschland z. B. mehr „Bürokräfte und Handwerker beschäftigt sind“ (Bonin/Gregory/Zierahn 2015, S. 8).
Eine weitere wichtige These in diesem Zusammenhang besagt, dass es aufgrund der Substituierung der Arbeitsplätze des mittleren Qualifikationsniveaus durch den zunehmenden Einsatz von Technologien zu einer Polarisierung der Lohnverteilung kommen könnte, da insbesondere um die Stellen im mittleren und unteren Lohnbereich ein steigender Wettbewerb entstünde.
Industriesoziologische Perspektive – Akzentuierung von Komplementarität, „Upgrading“ und Transformation
Das mittlere Qualifikationsniveau ist der Kernbereich der Berufsbildung. Eine Stärke in der Ausbildung von Fachkräften für dieses Qualifikationsniveau wird insbesondere den dualen Berufsbildungssystemen zugesprochen. Im internationalen Vergleich bleiben hierbei die tatsächlichen Arbeitsinhalte und damit auch die Fähigkeiten der Arbeitsplatzinhaber/-innen häufig unberücksichtigt. Maßgabe für den Vergleich sind i. d. R. die Bildungsabschlüsse der Stelleninhaber/-innen.
Insbesondere in der deutschsprachigen Industriesoziologie beschäftigt man sich seit Langem mit der Bedeutung des mittleren Qualifikationssegmentes für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Dem Typus des „deutschen Facharbeiters“/der „deutschen Facharbeiterin“ werden besondere Eigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen zugeschrieben, die ihn/sie von anderen Fachkräftetypen im internationalen Vergleich unterscheiden sollen. Die duale Ausbildung wird als ein wesentlicher Faktor bei der Herausbildung des spezifischen deutschen Fachkräftetypus betrachtet. Ähnlich wie Dengler und Matthes (2015, S. 3) betonen auch Vertreter/-innen aus der industriesoziologischen Richtung die Bedeutung der gesellschaftlichen Gestaltung des Technologieeinsatzes und die Verknüpfung mit gesellschaftlichen Institutionen und Normen.
Entsprechend rücken die – auch ökonomisch relevanten – Effekte einer Komplementarität zwischen neuen Technologien und neuen Qualifikationen und Beschäftigungsfeldern sowie die verändernde Wirkung auf Inhalte beruflicher Tätigkeiten in sich wandelnden Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrukturen in den Mittelpunkt der Betrachtung.
So fügt Hartmut Hirsch-Kreinsen (2016) dem Szenario einer Polarisierung von industrieller Arbeit in gut bezahlte Führungspositionen auf der einen Seite und niedrig bezahlte Hilfstätigkeiten unter prekären Bedingungen auf der anderen Seite 2 weitere Szenarien hinzu. In einem Szenario des „Upgradings“ wird vor allem die Bedeutung der Komplementarität der Qualifikationen der Beschäftigten zu dem erhöhten Technologieeinsatz in den Vordergrund gerückt. Die immer häufiger auftretende Übernahme von Einfacharbeiten durch Technologie setze zwar Arbeitskraft frei, benötige aber auch zunehmend Erwerbstätige, die über das notwendige Steuerungswissen verfügen, technologische Prozesse zu kontrollieren und zu koordinieren. Netto würden hiervon nicht nur Führungskräfte, sondern auch andere Beschäftigtengruppen profitieren. Überdies wird ein Szenario entwickelt, dass vor allem die strukturverändernde Wirkung des Einsatzes von Technologien betont. In dem Szenario „Flexibilisierung und Entgrenzung“ wird vor allem die Transformation der Arbeitsbedingungen akzentuiert: Z. B. würden hierarchische Abläufe zunehmend durch die technologische Zusammenlegung von entscheidenden und wertschöpfenden Funktionen in der Produktion herausgefordert und die wachsende Unabhängigkeit und Flexibilität von Arbeitsorten und -zeiten stelle klassische Modelle der Arbeitsorganisation auf den Prüfstand. Aus arbeitssoziologischer Sicht wurde außerdem das humane „Arbeitsvermögen“ dem o. g. Task-Ansatz gegenübergestellt. Auf der Basis einer langjährigen Reihe von Fallstudien über die Arbeit von Fachkräften im deutschen produzierenden Gewerbe kommen Sabine Pfeiffer und Anne Suphan (2015) zu einer anderen Interpretation, z. B. der Kategorie der Routinetätigkeiten, so wie sie zum Beispiel in der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung untersucht werden. Routine sei in vielen Fällen Ausdruck der Aneignung von betrieblichen Erfahrungswissen, das in vielen Fällen gerade nicht automatisierbar sei, sondern sich dadurch auszeichne, flexibel auf unvorhergesehene Probleme am Arbeitsplatz zu reagieren. Zur Messung dieser Ressource wurde ein Index entwickelt, mit dem es möglich ist, zum Beispiel das branchenspezifische Arbeitsvermögen abzubilden. Dieses Konzept ist bisher allerdings nicht im internationalen Vergleich zum Einsatz gelangt. Die zentralen Ansätze und Konzepte der Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt und die Berufe sind in Tabelle D2.1-1 zusammengefasst.
Tabelle D2.1-1: Konzepte zu den Folgen der Digitalisierung für Arbeitsmarkt und Berufe im Überblick
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Tasks, engl. = Aufgaben, job tasks = berufl. Tätigkeiten.