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Mit dem Jahr 2019 endete ein Jahrzehnt, das den Ausbildungsmarkt in seinen Relationen und Merkmalsstrukturen grundlegend veränderte. Zwar fiel 2019 erstmalig in dieser Dekade die Zahl der von der BA registrierten unbesetzt gebliebenen Ausbildungsplatzangebote gegenüber dem Vorjahr niedriger aus, aber dennoch berührte dieses Ergebnis nicht einen der zentralen Trends dieser Dekade: Das rechnerische Verhältnis zwischen betrieblichem Ausbildungsplatzangebot und der Ausbildungsplatznachfrage verbesserte sich im letzten Jahrzehnt ebenso kontinuierlich zugunsten der Jugendlichen, wie es sich umgekehrt zu Lasten der Betriebe durchgängig verschlechterte.

Zum Ende der Dekade stand den Betrieben nicht nur eine deutlich niedrigere Ausbildungsplatznachfrage aufseiten der Jugendlichen gegenüber, die mit rund 598.800 erstmalig unterhalb von 600.000 lag und gegenüber 2010 um 41.600 geschrumpft war Tabelle A1.1.1-1. Die Nachfrage hatte sich auch in ihren Merkmalsstrukturen verändert:

  • Zum einen war sie deutlich „männlicher“ geworden. Denn es war ausschließlich aufseiten der jungen Frauen zu einem Nachfragerückgang gekommen (um rund -51.300 bzw. -19,0% im Vergleich zu 2010). Die Gründe hierfür sind vielfältig: Demografisch bedingt sank (auch) die Zahl der jungen Frauen, und die verbliebenen Frauen wandten sich im Zuge ihrer im Schnitt höheren schulischen Vorbildung von vermeintlich einfachen Dienstleistungsberufen ab, nutzten schulische Berufsausbildungsangebote oder begannen ein Studium. Die Nachfrage bei den jungen Männern fiel 2019 gegenüber 2010 dagegen noch höher aus (rund +9.700 bzw. +2,6%). Denn demografisch bedingte Nachfragerückgänge auch auf ihrer Seite konnten durch die starke Zuwanderung männlicher Migranten zu großen Teilen kompensiert werden (vgl. Kapitel A12.2). Zudem nutzten die einheimischen jungen Männer mit Studienberechtigung viel häufiger als junge Frauen Angebote des dualen Berufsausbildungssystems, sei es im Anschluss an den Erwerb der Studienberechtigung oder nach einem Studienabbruch (vgl. Dionisius/Kroll/Ulrich 2018, S. 50),
  • Zum anderen zeichnete sich die Nachfrage am Ende des Jahrzehntes in formeller Hinsicht durch eine im Schnitt stark gestiegene schulische Vorbildung aus. Denn die Nachfrage war aufseiten der jungen Menschen mit Hauptschulabschluss eingebrochen (geschätzt rund -59.600 bzw. -28,6% gegenüber zu Beginn des Jahrzehnts), während sie bei den jungen Menschen mit Studienberechtigung merklich zugenommen hatte (geschätzt rund +40.400 bzw. +30,5%; Tabelle A1.1.1-1. Die Verschiebungen waren so stark, dass 2019 rechnerisch nur noch 86 Nachfrager mit Hauptschulabschluss auf jeweils 100 studienberechtigte Nachfrager entfielen. 2010 waren es noch 158 gewesen. Die Ursachen sind wiederum in demografisch bedingt sinkenden Zahlen an Schulabgänger/-innen sowie in einem auch in den 2010er-Jahren starken Trend zur schulischen Höherqualifizierung zu verorten: 2019 verließen geschätzt 60.200 junge Menschen weniger als 2010 die allgemeinbildenden Schulen. Gleichwohl wurden unter ihnen mehr Studienberechtigte gezählt (rund +12.400), während die Zahl der jungen Menschen mit Hauptschulabschluss um rund -50.000 niedriger ausfiel. Einen ähnlichen Trend gab es bei den teilqualifizierenden beruflichen Schulen: Insgesamt war 2019 die Zahl der Abgänger/-innen und Absolventen/Absolventinnen gegenüber 2010 um geschätzt rund 25.500 gesunken. Zugleich kam es auch hier zu gegenläufigen Entwicklungen: Während geschätzt rund 10.200 Personen mehr die Wirtschaftsgymnasien verließen, waren es bei den (teilqualifizierenden) berufsfachschulischen Bildungsgängen 38.100 weniger Tabelle A1.1.1-2.3

Tabelle A1.1.1-1: Übersicht über die Ausbildungsmarktentwicklung 2010 bis 2019 in Deutschland (Stichtag 30. September) (Teil 1)

Tabelle A1.1.1-1: Übersicht über die Ausbildungsmarktentwicklung 2010 bis 2019 in Deutschland (Stichtag 30. September) (Teil 2)

Tabelle A1.1.1-2: Entwicklung der Zahl der Schulabgänger/-innen und Schulabsolventen/-absolventinnen 2010 bis 2019 (2019 geschätzt)

Zum Ende der 2010er-Jahre gab es also in Deutschland mehr an dualer Berufsausbildung interessierte junge Menschen mit Studienberechtigung als mit Hauptschulabschluss. Für die Vermittelbarkeit von jungen Menschen in Ausbildung scheint eine gestiegene schulische Vorbildung vordergründig von Vorteil zu sein. Denn viele Betriebe verbinden ihr Ausbildungsplatzangebot mit Mindesterwartungen an die Schulabschlüsse ihrer künftigen Auszubildenden (vgl. Eberhard 2012; Eberhard 2016, Bundesagentur für Arbeit 2019c, S. 11). Je deutlicher nun die tatsächlichen Schulabschlüsse der ausbildungsinteressierten Jugendlichen diesen Mindesterwartungen entsprechen, desto größer scheinen ihre Eintrittschancen in eine Ausbildung zu sein. Ergebnissen der BA zufolge setzten die Betriebe zum Ende des letzten Jahrzehnts (2019) für 48,6% ihrer den Beratungs- und Vermittlungsdiensten gemeldeten Ausbildungsstellen zumindest einen Hauptschulabschluss voraus, für 35,1% mindestens einen mittleren Abschluss, für 7,4% zumindest eine Fachhochschulreife und für 1,2% eine allgemeine Hochschulreife (Rest: keine Angabe oder Festlegung; vgl. Bundesagentur für Arbeit 2019b). Im Zuge der gestiegenen schulischen Vorbildung erfüllten nun 93,5% aller von der BA registrierten Ausbildungsstellenbewerber/-innen die Mindestanforderung Hauptschulabschluss, 43,6% die Mindestanforderung mittlerer Abschluss, 26,6% die Mindestanforderung Fachhochschulreife und 13,3% die Mindestanforderung Abitur (vgl. auch Milde u. a. 2020, Abbildung 15). Die Erwartungen der Betriebe im Hinblick auf die Schulabschlüsse ihrer künftigen Auszubildenden wurden also von der Ausbildungsplatznachfrage zum Ende des vergangenen Jahrzehnts in formeller Hinsicht mehr als erfüllt Schaubild A1.1.1-1.

Schaubild A1.1.1-1: Gemeldete Berufsausbildungsstellen nach gefordertem Schulabschluss und die ( jeweils kumulierte) Anzahl der Bewerber/-innen, die den jeweiligen Abschluss erreichten oder sogar übertrafen (Berichtsjahr 2018/2019)

Begriffliche Unterscheidungen im Rahmen der Ausbildungsmarktbilanz

In der Ausbildungsmarktbilanz stellen die Begriffe „Berufsausbildungsstellen“ und „Ausbildungsplatzangebot“ keine Synonyme dar, ebenso nicht „Ausbildungsstellenbewerber/-innen“, „Ausbildungsplatznachfrager/-innen“ und „Ausbildungsinteressierte“.

Die Begriffe „Berufsausbildungsstellen“ und „Ausbildungsstellenbewerber/-innen“ stammen aus der Ausbildungsmarktstatistik der BA. Sie umfassen jene Stellen und Bewerber/-innen, die den Beratungs- und Vermittlungsdiensten mit der Bitte um Vermittlungsunterstützung gemeldet sind, seien es den Agenturen für Arbeit (AA), den Jobcentern in gemeinsamer Einrichtung (JC gE) oder den Jobcentern in alleiniger kommunaler Trägerschaft (JC zkT). Als Ausbildungsstellenbewerber/-innen wird man nur registriert, wenn die individuelle Eignung für die angestrebten Ausbildungsberufe geklärt ist bzw. die Voraussetzungen zur Aufnahme einer Berufsausbildung gegeben sind.

Zum offiziellen und für die abschließende Gesamtbilanz maßgeblichen Ausbildungsplatzangebot eines Jahres zählen die neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge, die das BIBB im Rahmen seiner Erhebung zum 30. September erfasst (erfolgreich besetztes Angebot), sowie die bei der BA registrierten betrieblichen Berufsausbildungsstellen, die der Arbeitsverwaltung während des Berichtsjahres zur Vermittlung angeboten wurden und die zum Stichtag 30. September noch nicht besetzt waren (erfolgloses, unbesetztes Angebot).

Zur offiziellen und für die abschließende Gesamtbilanz maßgeblichen Ausbildungsplatznachfrage zählen jene ausbildungsinteressierten Jugendlichen, die entweder einen neuen Ausbildungsvertrag abschlossen und somit über die BIBB-Erhebung zum 30. September erfasst werden (erfolgreiche Nachfrage) oder die zum Kreis der Ausbildungsstellenbewerber/-innen gehören, die zum Stichtag 30. September weiterhin auf Ausbildungsplatzsuche sind (erfolglose Nachfrage).

Die erweiterte Angebots-Nachfrage-Relation (eANR) zeigt an, wie viele Ausbildungsplatzangebote rechnerisch auf 100 Ausbildungsplatznachfrager/-innen entfallen. „Erweitert“ bedeutet, dass zu den erfolglosen Ausbildungsplatznachfragern/-nachfragerinnen im Gegensatz zu früheren Berechnungen alle von den Beratungs- und Vermittlungsdiensten erfassten und zum Stichtag noch suchenden Ausbildungsstellenbewerber/-innen gerechnet werden. In früheren Berechnungen wurden nur diejenigen noch suchenden Bewerber/-innen berücksichtigt, die sich nicht um eine zwischenzeitliche Überbrückung (z. B. Arbeit, teilqualifizierender Schulbesuch) kümmern konnten oder wollten. Mit der neuen Berechnung wird verhindert, dass noch suchende Jugendliche aus der Erfassung der (erfolglosen) Ausbildungsplatznachfrage ausgeschlossen werden, weil sie sich, wie durchaus erwünscht, gegebenenfalls um eine Überbrückungsalternative kümmern. Die eANR liefert somit auch ein deutlich realistischeres Bild vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage als die traditionelle Berechnungsform. Gegenüberstellungen beider Varianten der ANR-Berechnung finden sich in Tabelle A1.1.2-1 mit den nach Deutschland, West, Ost und Ländern differenzierten Eckdaten des Ausbildungsmarktes 2019 sowie in den Tabelle A1.1.2-2 Internet bzw. A1.1.2-3 Internet bzw. mit Zeitreihendaten von 2009 bis 2019 in den selben regionalen Differenzierungen.

Gemeldete Ausbildungsstellenbewerber/-innen, die sich im Laufe des Berichtsjahres für eine Alternative entschlossen (z. B. erneuter Schulbesuch, Studium, Erwerbstätigkeit, berufsvorbereitende Maßnahme) und am 30. September nicht mehr oder vorerst nicht mehr nach einer Berufsausbildungsstelle suchen, werden grundsätzlich nicht zu den Ausbildungsplatznachfragern/-nachfragerinnen gerechnet (d. h. auch dann nicht, wenn sie diese Alternative aufgrund erfolgloser Bewerbungen anstreben). Sie werden aber zu den Ausbildungsinteressierten gerechnet. Die Gruppe schließt alle institutionell erfassten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ein, die sich im Laufe des Berichtsjahres zumindest zeitweise für die Aufnahme einer dualen Berufsausbildung interessierten und deren Eignung hierfür festgestellt wurde, sei es über die Eintragung ihrer Ausbildungsverhältnisse bei den zuständigen Stellen oder – sofern sie nicht in eine Ausbildung einmündeten – im Rahmen ihrer Registrierung als Ausbildungsstellenbewerber/-innen bei den Beratungs- und Vermittlungsdiensten.

Doch scheint gerade dieses „mehr als erfüllt“ im vergangenen Jahrzehnt zu einem Hemmnis für die Besetzbarkeit der von den Betrieben angebotenen Ausbildungsplätze geworden zu sein. Denn die ausbildungsinteressierten Jugendlichen orientieren sich bei ihrer Berufswahl auch an ihren Schulabschlüssen und tendieren dazu, einen Ausbildungsberuf zu wählen, der für Personen mit ihrer schulischen Vorbildung typisch ist. Mit diesem Auswahlverhalten verbinden sie nicht nur vermeintliche Vorteile im Hinblick auf Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, Verdienst und Weiterentwicklungsmöglichkeiten, sondern auch im Hinblick auf das gesellschaftliche Prestige und die Akzeptanz ihrer Berufswahl im eigenen sozialen Umfeld (vgl. Engin 2016; Oeynhausen/Ulrich 2020; Ziegler/Engin/Rotter 2020). So scheint es vielen Jugendlichen folgerichtig zu sein, die durch ihre Bildungsinvestitionen ermöglichten exklusiven Zugangschancen in bestimmte Berufe nun auch zu nutzen (vgl. Schier/Ulrich 2014, S. 362ff.).

Infolgedessen lag Ende des letzten Jahrzehnts der Schwerpunkt der Ausbildungsnachfrage junger Menschen auf Berufen, die in der Regel von Personen mit höherer schulischer Vorbildung erlernt werden. Umgekehrt litten ausgerechnet jene Berufe an einem Mangel an Ausbildungsplatznachfrage, die traditionell auch Jugendlichen mit Hauptschulabschluss und somit einem sehr breiten Kreis an Jugendlichen offenstehen. Deshalb fielen am Ende des Jahrzehntes die Besetzungsprobleme im Schnitt in denjenigen Ausbildungsberufen besonders groß aus, die bislang eher typische „Hauptschülerberufe“ waren Schaubild A1.1.1-2.

Schaubild A1.1.1-2: Rechnerischer Einfluss des Hauptschüler/-innenanteils1 im jeweiligen Ausbildungsberuf auf das Interesse der Jugendlichen2 und die Besetzbarkeit von Ausbildungsplatzangeboten im Jahr 2019

In Tabelle A1.1.1-3 sind exemplarisch stärker besetzte Berufe aufgeführt, in denen es im letzten Jahrzehnt zu starken Nachfragerückgängen kam, verbunden mit einer steigenden Zahl von Ausbildungsplätzen, die die Betriebe bis zum Berichtsjahresende vergeblich anboten. Viele dieser Berufe stehen im breiten Umfang auch Jugendlichen mit Hauptschulabschluss offen, so zum Beispiel die drei erstgenannten Berufe des Lebensmittelhandwerks Bäcker/-in, Fleischer/-in und Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk oder die Berufe Gebäudereiniger/-in, Maler/-in und Lackierer/-in und Friseur/-in. 

Tabelle A1.1.1-3: Übersicht über die Ausbildungsmarktentwicklung 2010 bis 2019 in Berufen, die eine stark sinkende Nachfrage und zugleich eine deutlich steigende Zahl unbesetzter Ausbildungsplatzangebote zu verzeichnen hatten (Stichtag 30. September)

Nach einer Studie der Universität Göttingen im Rahmen des Ländermonitors Berufliche Bildung 2019 waren berufsbezogene Unstimmigkeiten (Mismatches) zwischen dem Ausbildungsplatzangebot der Betriebe und der Nachfrage der Jugendlichen zunehmend der Grund dafür, dass das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial immer größer wurde (vgl. Burkard 2019, S. 20-22; Seeber u. a. 2019a, S. 77-80; Seeber u. a. 2019b, Tabelle 6.24A). 2019 betrug das ungenutzte Vertragspotenzial 53.100, resultierend aus den rund 53.100 unbesetzten Ausbildungsplätzen, denen rund 73.700 noch suchende Ausbildungsplatznachfrager/-innen gegenüberstanden Tabelle A1.1.1-1.

Ungenutztes Ausbildungsvertragspotenzial

Das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial ist stets so hoch wie die kleinere Zahl der auf den beiden Seiten des Ausbildungsmarktes registrierten erfolglosen Teilnahmen (da jeder dieser erfolglosen Teilnahmen zumindest eine erfolglose Teilnahme auf der anderen Marktseite gegenübersteht und infolgedessen in quantitativer Hinsicht das Potenzial vorhanden war, jede dieser Marktteilnahmen zu einem erfolgreichen Vertragsabschluss zu führen).

Wie Schaubild A1.1.1-3 zeigt, haben nach den Ergebnissen der Göttinger Studie in den letzten Jahren die regionalen, vor allem aber die merkmalsbezogenen bzw. eigenschaftsbezogenen Unstimmigkeiten (Mismatches) zwischen Angebot und Nachfrage gegenüber den beruflichen Unstimmigkeiten an Bedeutung verloren: Ausbildungsverträge kommen zunehmend deshalb nicht zustande, weil sich Betriebe und Jugendliche nicht mehr im selben Maße wie früher einig sind, in welchen Berufen ausgebildet werden soll (vgl. auch Haverkamp 2016; Ulrich 2019).

Schaubild A1.1.1-3: Die relative Bedeutung verschiedener Varianten von Unstimmigkeiten zwischen Angebot und Nachfrage für das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial in Deutschland (in %)

Unstimmigkeiten (Mismatches) zwischen Angebot und Nachfrage

Berufliche Unstimmigkeiten liegen vor, wenn sich beide Markseiten (Jugendliche und Betriebe) grundsätzlich nicht einig sind im Hinblick auf die Berufe, in denen ausgebildet werden soll.

Bei regionalen Unstimmigkeiten besteht zwischen beiden Seiten Übereinstimmung im Hinblick auf den Beruf, in dem die Ausbildung stattfinden soll, aber nicht im Hinblick auf die Region, in der ausgebildet werden soll (die Jugendlichen wünschen sich zum Beispiel eine Ausbildung im betreffenden Beruf in der Heimatregion, die betreffende Stelle ist aber weiter entfernt).

Merkmalsbezogene bzw. eigenschaftsbezogene Unstimmigkeiten sind wiederum gegeben, wenn beide Marktseiten eine Ausbildung im selben Beruf und in derselben Region anstreben, aber nicht Übereinstimmung erzielen im Hinblick auf die Eigenschaften, die der jeweilige Ausbildungsvertragspartner/die jeweilige Vertragspartnerin mitbringen soll: Der Betrieb wünscht sich zum Beispiel eine/-n Auszubildende/-n mit mindestens Fachhochschulreife, über die der Bewerber/die Bewerberin nicht verfügt, oder der Jugendliche möchte in einem großen Betrieb ausgebildet werden, die Stelle wird jedoch von einem kleinen Betrieb angeboten.

Zu den merkmals- bzw. eigenschaftsbezogenen Unstimmigkeiten zählen rechnerisch auch das Phänomen, dass die Betriebe bzw. Jugendlichen den Ausbildungswunsch der jeweils anderen Seite nicht zur Kenntnis nehmen (das Merkmal der gegenseitigen Informiertheit ist nicht gegeben) bzw. dass die verbleibende Zeit nicht mehr ausreicht, um noch bis zum Stichtag der Ausbildungsvertragszählung zu einem Vertragsabschluss zu gelangen (das Merkmal der organisatorischen Realisierbarkeit eines Vertragsabschlusses ist nicht vorhanden).

Die Ursachen für die einen Vertragsabschluss hemmenden Unstimmigkeiten liegen in Passungsproblemen (vgl. Matthes u. a. 2014; Ulrich 2019) begründet, doch reichen Passungsprobleme definitorisch noch über den Umfang des ungenutzten Ausbildungsvertragspotenzials hinaus. Im Gegensatz zum ungenutzten Vertragspotenzial ist für die Ermittlung der Passungsprobleme auch relevant, in welchem Ausmaß die Seite mit der höheren Zahl an Marktteilnahmen (2019: die rund 73.700 erfolglos suchenden Jugendlichen) die kleinere Zahl (2019: die rund 53.100 unbesetzten Plätze) übertrifft. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es einen Unterschied ausmacht, ob z. B. jeweils 100 unbesetzten Plätzen 150 erfolglos Suchende gegenüberstehen oder sogar 500 erfolglos Suchende. Denn je stärker die Seite mit der größeren Zahl erfolgloser Marktteilnahmen die Seite mit der kleineren Zahl übertrifft, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Angebot und Nachfrage grundsätzlich nicht zusammenpassen. Um zugleich Passungsprobleme begrifflich von Besetzungsproblemen (es gibt viele unbesetzte Stellen, aber wenig erfolglos suchende Jugendliche) oder Versorgungsproblemen (viele erfolglos Suchende, aber wenig unbesetzte Stellen) abzugrenzen (vgl. Matthes/Ulrich 2014), gilt, dass Passungsprobleme gegeben sind, wenn zum Bilanzierungsstichtag 30. September sowohl relativ viele unbesetzte Ausbildungsstellen als auch relativ viele erfolglos suchende Jugendliche übriggeblieben sind.

Passungsprobleme

Quantitativ lässt sich das Ausmaß der Passungsprobleme durch Multiplikation der relativen Erfolglosenanteile auf den beiden Seiten des Ausbildungsmarktes abbilden. Der „Index Passungsprobleme“ (IP) berechnet sich als Produkt aus dem Prozentanteil der unbesetzten Stellen am betrieblichen Ausbildungsplatzangebot und dem Prozentanteil der noch suchenden Bewerber/-innen an der Ausbildungsplatznachfrage.

Der Wertebereich variiert damit rechnerisch von 0% * 0% = 0 (keinerlei Passungsprobleme, da keine gemeldete Stelle unbesetzt bleibt und kein Nachfrager am Ende des Berichtsjahres noch sucht) bis hin zum nur rechnerisch, aber praktisch kaum möglichen Wert von 100% * 100% = 10.000 (alle gemeldeten Stellen bleiben unbesetzt und alle Nachfrager/-innen suchen am Ende des Berichtsjahres noch weiter).

Durch die multiplikative Verknüpfung wird sichergestellt, dass der Indikator auch dann keine Passungsprobleme anzeigt, wenn zwar massive Besetzungsprobleme vorliegen, aber keine Versorgungsprobleme (im Extremfall 100% * 0% = 0), und umgekehrt, wenn keine Besetzungsprobleme existieren, aber die Versorgungsprobleme groß sind (im Extremfall 0% * 100% = 0).

Wie Schaubild A1.1.1-4 zeigt, nahmen die Passungsprobleme trotz eines leichten Rückgangs im Jahr 2019 deutlich zu. Denn ungeachtet der stark gestiegenen Quote unbesetzter betrieblicher Ausbildungsplatzangebote verharrte der Anteil der erfolglosen Ausbildungsplatznachfrage auf relativ hohem Niveau Tabelle A1.1.1-1.

Die im letzten Jahrzehnt gewachsene Zahl unbesetzter betrieblicher Ausbildungsplätze hängt jedoch nicht nur mit der gesunkenen Nachfrage und den Passungsproblemen zusammen, sondern auch mit dem Umstand, dass der Bedarf der Wirtschaft nach Auszubildenden zunahm. 2019 wurden 25.000 betriebliche Ausbildungsplätze mehr angeboten als 2010. Parallel zu dieser Entwicklung wurde der Umfang der zusätzlich bereitgestellten, überwiegend öffentlich finanzierten Ausbildungsplätze (siehe Erläuterung in Kapitel A1.2) zurückgefahren. Damit kam es auch aufseiten des Ausbildungsplatzangebots zu einer nachhaltigen merkmalsstrukturellen Verschiebung: Sie bewirkte, dass 2019 fast alle Ausbildungsplatzangebote des Jahres 2019 betrieblicher Herkunft waren (rund 563.900 bzw. 97,5%). Der Anteil der überwiegend öffentlich finanzierten Plätze lag nur noch bei rund 14.400 bzw. 2,5%. Zu Beginn des Jahrzehnts waren es noch rund 41.000 bzw. 7,1% gewesen. Im Vergleich zu früheren Jahren haben außerbetriebliche Ausbildungsplatzangebote – inzwischen auf ein Drittel des Umfangs von 2010 reduziert – somit nur noch ein relativ geringes Gewicht Tabelle A1.1.1-1.

Schaubild A1.1.1-4: Entwicklung des Index Passungsprobleme 2010 bis 2019 in Deutschland

Die Entwicklung im letzten Jahrzehnt lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Einer zwischen 2010 und 2019 um 41.600 Personen gesunkenen Ausbildungsplatznachfrage in Verbindung mit strukturellen Verschiebungen (Männer: Zuwachs um rund +9.700, Frauen: Rückgang um rund -51.300; Personen mit Hauptschulabschluss: rund -59.600; Personen mit Studienberechtigung rund +40.400) stand zum Ende des Jahrzehnts ein Ausbildungsplatzangebot gegenüber, das noch stärker als früher von den Betrieben, Praxen und Verwaltungen geprägt wurde. Denn während das außerbetriebliche Ausbildungsplatzangebot um rund -26.700 Plätze gesunken war, fiel das betriebliche Angebot gegenüber dem Jahrzehntanfang um rund +25.000 Ausbildungsplätze höher aus.

Ungeachtet der im Schnitt deutlich höheren Schulabschlüsse der Jugendlichen galt aber auch zum Ende des Jahrzehnts weiterhin, dass der Bedarf der Wirtschaft nach aus ihrer Sicht exklusiv für Studienberechtigte geeignete Ausbildungsberufe begrenzt ist. Jugendliche mit höherer schulischer Vorbildung gehen jedoch bislang nur begrenzt auf Ausbildungsberufe zu, die einem breiten Kreis von Jugendlichen offenstehen. Die quantitativen Veränderungen und strukturellen Verschiebungen innerhalb der Ausbildungsplatznachfrage und des Ausbildungsplatzangebots verbanden sich somit im letzten Jahrzehnt mit gestiegenen Passungsproblemen und folglich mit relativ hohen Zahlen erfolgloser Suchaktivitäten auf beiden Seiten des Ausbildungsmarktes. Die Passungsprobleme führten wiederum dazu, dass das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial um einen rechnerischen Betrag von rund 33.200 entgangenen Möglichkeiten zunahm. Letztlich wurden somit zum Ende des Jahrzehnts rund 34.900 Ausbildungsverträge weniger abgeschlossen als noch zu seinem Beginn Tabelle A1.1.1-1 (vgl. Kapitel A1.2 zu den Ausbildungsverträgen).

  • 3

    Den hier genannten Größen liegen Ist-Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2010 und 2018 zugrunde; die Zahlen für 2019 wurden mithilfe der Vorausberechnung der KMK und unter Berücksichtigung der letzten Ist-Zahlen (2018) geschätzt (vgl. Kultusministerkonferenz 2018, Statistisches Bundesamt 2019). Dabei wurde angenommen, dass die relativen Veränderungsraten zwischen 2018 und 2019 so ausfielen, wie im Rahmen der KMK-Prognose erwartet wurde. Bei den Abgängern/Abgängerinnen und Absolventen/Absolventinnen aus den (teilqualifizierenden) beruflichen Schulen wurden folgende Bildungsgänge berücksichtigt: Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr in vollzeitschulischer Form, Berufsfachschulen (ohne Absolventen/Absolventinnen aus vollqualifizierenden Berufsausbildungsgängen), Fachgymnasien und Fachoberschulen).