Im Kontext von demografischem Wandel und zunehmender Digitalisierung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche gewinnt die lebensbegleitende Kompetenzentwicklung immer mehr an Bedeutung. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die in den 1990er-Jahren eingesetzt hat und in engem Zusammenhang mit einer Reihe gesellschaftlicher Umbrüche steht: dem zunehmenden Einfluss von Digitalisierung, den Veränderungen von Arbeits- und Unternehmensorganisation und einem Wertwandel, den veränderten individualisierten Ansprüchen an Arbeit hinsichtlich größerer Handlungsspielräume, verbesserter Partizipation und Arbeitszufriedenheit.
In diesem Zusammenhang wird häufig von einer Subjektivierung der Arbeit gesprochen. Dies meint eine Wechselseitigkeit, in der Beschäftigte und betrieblich organisierte Arbeitsprozesse einander gegenseitig beeinflussen. Erwerbsarbeit muss demnach stärker lern- und kompetenzförderlich gestalten werden, damit Individuen motiviert sind, ihre persönlichen Fähigkeiten umfassend einzusetzen. Denn von Fachkräften wird zunehmend gefordert, dass sie eigene Problemlösungen und Ideen in die Arbeit einbringen. Eine gesteigerte Subjektivierung der Arbeit wird häufig mit einer Aufwertung von Arbeit gleichgesetzt und erfordert zugleich eine Erweiterung der Qualifikationen.
In gewisser Weise dokumentiert diese Entwicklung die Durchsetzung von Kompetenz als zentralen Leitbegriff der Bildungspolitik. Er löst die Orientierung der Berufsbildung an Qualifikationen sowie Kenntnissen und Fertigkeiten ab. Im Unterschied zu diesen beziehen sich Kompetenzen auf das Subjekt und sollen dieses befähigen, gleichermaßen betriebliche und gesellschaftliche Anforderungen zu erfüllen. Sie werden im Lebensverlauf erworben und sind immer an subjektive Erfahrungen gebunden. Das unterscheidet den Kompetenzbegriff von dem der Qualifikation, so wie es der Deutsche Bildungsrat bereits 1974 in seiner Definition zugrunde legte. Kompetenz wird dort als immer vorläufiges Ergebnis der Kompetenzentwicklung auf die einzelnen Lernenden und ihre Befähigung zu selbstverantwortlichem Handeln in privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Situationen gesehen. Unter Qualifikationen hingegen sind die Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit zu verstehen, d. h., Qualifikation ist primär aus Sicht der Nachfrage und nicht des Subjekts bestimmt (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974).
Kompetenzbegriff
Mit dem Begriff „Kompetenz“ werden im Allgemeinen Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Personen bezeichnet, die sie dazu befähigen, spezifische Aufgaben zu bewältigen. Kompetenzen gelten als erlernbar und daher förderbar.
In Theorie und Praxis der beruflichen Aus- und Weiterbildung sind die Begriffe Kompetenz und Kompetenzentwicklung heute als zentrale Begriffe etabliert. Gleichwohl differieren die Begriffsverständnisse und dahinterliegenden Konzepte häufig, die insbesondere in der Weiterbildung vielfältiger und weitergefasst werden als in der beruflichen Erstausbildung. Konsens besteht darin, die Kompetenzentwicklung als einen Prozess zu beschreiben, der vom Subjekt her gedacht und angeleitet wird.
Kompetenzentwicklung
Als Leitkategorie des gesamten Bildungssystems richtet die Kompetenzentwicklung ihre Aufmerksamkeit auf subjektive Fähigkeiten, Erfahrungen, Interessen, soziale Positionen und Lebensumstände von Menschen. Von diesen Faktoren ist es abhängig, ob und in welcher Weise Individuen ihre Kompetenzen aktiv weiterentwickeln und ihre Erwerbschancen und privaten Lebenschancen verbessern können. Die Herausbildung von Kompetenzen erfolgt durch lebensbegleitendes Lernen in der Arbeit- und in der Lebenswelt.
Während Kompetenzentwicklung für die einzelnen Individuen im Können und in der Bewältigung von neuen Anforderungen erfahrbar ist, ist die Erfassung des Kompetenzerwerbs aus wissenschaftlicher Sicht hingegen sehr voraussetzungsvoll und mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Ein erster Stolperstein besteht darin, dass die für berufliches Handeln erforderlichen Kompetenzen häufig nicht klar sind. Dies betrifft neben fachlichen auch soziale und personale Kompetenzbereiche, die im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses beruflicher Handlungskompetenz mit zu berücksichtigen sind. Ein zweiter Stolperstein besteht in einem Mangel an Messverfahren zur Erfassung von den in Kompetenzmodellen beschriebenen Kompetenzen. Sowohl für den wissenschaftlichen Gebrauch als auch für die Praxis der Kompetenzerfassung müssen passende, oft berufsspezifische Messverfahren (weiter-)entwickelt werden, die den Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität genügen. Hierbei haben sich psychometrische Tests als geeignet erwiesen und etabliert. Diese erlauben, verschiedene Niveaustufen der erfassten Kompetenzen abzubilden, sodass Personen, die Aufgaben bzw. Anforderungen mit höherem Schwierigkeitsniveau bewältigen können, einem höheren Kompetenzniveau zugeordnet werden. Dabei werden zunehmend auch die Möglichkeiten technologiegestützter Verfahren zur Kompetenzmessung erforscht. Die mit kompetenzorientierten Messverfahren erhobenen Daten können Hinweise auf Förderbedarfe der Lernenden liefern und auch zur Evaluation kompetenzorientierter Lehr-/Lernkonzepte eingesetzt werden.
Kompetenzerfassung
Bei der Kompetenzerfassung geht es darum, die Kompetenzen von Personen durch geeignete Verfahren sichtbar zu machen. Im Bereich der Berufsbildung erfolgen Kompetenzerfassung und Kompetenzdiagnostik im Prüfungswesen des dualen Systems, in der Kompetenzdiagnostik in der betrieblichen Praxis, beispielsweise in der Personalauswahl und -entwicklung, in Kompetenzdiagnostik zur Anerkennung von informell und non-formal erworbenen Kompetenzen sowie in der Forschung.
Der oben beschriebene Wandel von Arbeit und Qualifizierung, die damit verbundenen veränderten Kompetenzanforderungen sowie die Kompetenzorientierung der Betriebe lassen darauf schließen, dass Betriebe ihre Bildungsarbeit sowie ihre Entwicklungs- und Aufstiegswege neu gestalten müssen. Dabei stellen sich eine ganze Reihe von Fragen zur betrieblichen Praxis der Kompetenzentwicklung: Welche veränderten Kompetenzanforderungen in beruflichen Tätigkeiten werden im Zuge zunehmender Digitalisierung und veränderter Arbeits- und Unterorganisationsformen wichtig und in welcher Weise können Kompetenz- und Qualifikationsprofile von Beschäftigten diesen Anforderungen gerecht werden? Welche Lernformen werden in Unternehmen praktiziert, um Kompetenzen und Erfahrungen auszubilden? Welche betriebsspezifischen Kompetenzen sollen entwickelt werden, die die Grenzen bisheriger Anpassungsqualifizierungen deutlich überschreiten? Wie sehen kompetenzförderliche Arbeits- und Unternehmenskulturen aus und welche Entwicklungs- und Aufstiegswege bestehen, damit Beschäftigte ihre Kompetenzen einbringen können, diese Kompetenzen sichtbar werden, um eine Anerkennung in Form einer angemessenen Position und Bezahlung zu erhalten?
In den nachfolgenden Kapiteln wird das Thema Kompetenzentwicklung anhand der Themenkomplexe (C2) Kompetenzmodellierung und Kompetenzdiagnostik (C3) Kompetenzklassifikationen zur Prognose und Analyse von Berufsprofilen und Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt (C4) Kompetenzentwicklung im Betrieb aufgespannt und anhand der Ergebnisse aus verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten erläutert.
Kapitel C2 beginnt im ersten Abschnitt mit der Darstellung eines prototypischen Vorgehens bei der Entwicklung von beruflichen Kompetenzmodellen und darauf bezogenen Instrumenten zur Kompetenzmessung. Es folgt ein Überblick zu den Schwerpunkten im Bereich der beruflichen Kompetenzdiagnostik in Deutschland anhand einer systematischen Überblicksstudie und durch die Vorstellung von aktuell geförderten Forschungs- und Transferprojekten der Forschungs- und Transferinitiative ASCOT+, die derzeit technologiegestützte Mess- und Lehr-/Lerninstrumente für ausgewählte Kompetenzen in der Ausbildungs- und Prüfungspraxis erproben (C2.1). Im zweiten Kapitelabschnitt werden ausgewählte Ergebnisse aus neueren Studien zur Kompetenzmessung präsentiert. Sie beziehen sich auf den Bereich der beruflichen Fortbildung sowie auf Kompetenzen zur nachhaltigen Entwicklung (C2.2).
Kapitel C3 thematisiert aktuelle Ansätze zur Prognose und zur Analyse von Kompetenzanforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Schwerpunktmäßig widmen sich die beiden Beiträge in diesem Abschnitt der Entwicklung von Kompetenzklassifikationen. Zum einen wird ein kompetenzorientiertes Analyseinstrument zur Prognose von Fachkräfteangebot und -nachfrage in Deutschland vorgestellt. Zum anderen wird ein System im Aufbau zur breitflächigen Analyse von Kompetenzanforderungen in Stellenanzeigen erläutert.
Kapitel C4 schließlich widmet sich der Praxis betrieblicher Kompetenzentwicklung und beleuchtet verschiedene Lernformen, insbesondere in der betrieblichen Weiterbildung anhand von Betriebsbefragungen, sowohl auf der Basis von standardisierten Daten als auch Ergebnissen aus qualitativen Betriebsfallstudien. Es werden Bedingungen für Kompetenzentwicklung in kleinen und mittleren Unternehmen fallspezifisch als Voraussetzung der Möglichkeit arbeitsprozessintegrierter Kompetenzentwicklung untersucht. Darüber hinaus wird anhand von repräsentativen Betriebsdaten die Bedeutung des betrieblichen Kompetenzmanagements im Rahmen gesamtbetrieblicher Strategien zur Qualifikationsbedarfsdeckung eruiert.
(Agnes Dietzen)