Während zur Zeit der internationalen Finanzkrise nicht nur die Zahlen der Ausbildungsplatzangebote und Ausbildungsplatznachfrager/-innen, sondern auch die Anteile erfolgloser Marktteilnahmen zurückgegangen waren, kam es 2020 zu einem Anstieg der Zahlen und des Anteils erfolgloser Marktteilnahmen auf beiden Seiten des Ausbildungsmarktes (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2020b, 2020c) Tabelle A1.1.2-1.
Tabelle A1.1.2-1: Erfolglose Marktteilnahmen 2010 bis 2020 in Deutschland (Stichtag 30. September)
Unbesetzte Ausbildungsplatzangebote
Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen stieg 2020 im Vergleich zu 2019 um 6.800 (+12,8%) Plätze an und erreichte mit 59.900 unbesetzten Ausbildungsstellen einen neuen Höchstwert seit 1994. Insgesamt blieben 11,7% des betrieblichen Gesamtangebots zum Bilanzierungsstichtag 30. September unbesetzt (Vorjahr: 9,4%).
Die größten Besetzungsprobleme waren 2020 erneut im Zuständigkeitsbereich des Handwerks zu verzeichnen. Bundesweit blieben hier 18.600 Ausbildungsstellen, bzw. 12,8% des betrieblichen Angebots unbesetzt. Seit 2009 (3,2%) hat sich die Zahl der ungenutzten Ausbildungsstellenangebote im Handwerk somit vervierfacht. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Anteil um 2,1 Prozentpunkte. Im Bereich Industrie und Handel lag die bundesweite Quote der unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplatzangebote 2020 erneut etwas niedriger als im Handwerk, überschritt jedoch auch erstmalig die 10%-Marke. Insgesamt wurden hier 33.500 Stellen ohne Erfolg angeboten, das waren 11,6% des betrieblichen Gesamtangebots. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl unbesetzter Ausbildungsangebote in diesem Bereich um 3.300 bzw. 10,9%. Auch in den freien Berufen nahm die Zahl der unbesetzten Plätze 2020 deutlich zu. Bundesweit blieben hier 4.200 Ausbildungsstellen unbesetzt, 600 Stellen bzw. 17,6% mehr als im Vorjahr. Der Anteil der unbesetzten Stellen am betrieblichen Angebot stieg damit auf 8,8%. Im Vergleich zu allen anderen Zuständigkeitsbereichen ist der öffentliche Dienst weiterhin am wenigsten von Besetzungsproblemen betroffen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der unbesetzten Stellen in diesem Bereich jedoch fast verdreifacht (2019: 200, 2020: 600) und es blieb bundesweit 4,1% des betrieblichen Angebots im öffentlichen Dienst unbesetzt. Auch im Bereich der Landwirtschaft nahm die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplatzangebote zu. Zwar stieg in diesem Zuständigkeitsbereich das gesamte betriebliche Ausbildungsplatzangebot (Kapitel 1.1.1), doch war der Zuwachs bei den zum Stichtag 30. September noch offenen Stellen noch deutlich stärker. Bundesweit blieben hier 5,5% des betrieblichen Angebots unbesetzt und damit 0,9 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr Tabelle A1.1.2-1.
Erfolglose Ausbildungsplatznachfrage
Die Zahl der Bewerber/-innen, die am 30. September 2020 bei der BA als noch eine Ausbildungsstelle suchend gemeldet waren und die deshalb als erfolglose Ausbildungsplatznachfrager/-innen gelten, umfasste bundesweit 78.200 Personen. Die Zahl der erfolglosen Nachfrager/-innen stieg damit gegenüber 2019 um 4.500 (+6,1%). Der Anteil der erfolglosen Bewerber/-innen an der offiziell ermittelten Nachfrage lag 2020 bei 14,3% (Vorjahr: 12,3%).
Passungsprobleme
Im Berichtsjahr 2020 betrug das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial 59.900, resultierend aus den 59.900 unbesetzten Ausbildungsplätzen, denen 78.200 noch suchende Ausbildungsplatznachfrager/-innen gegenüberstanden.
Ungenutztes Ausbildungsvertragspotenzial
Das ungenutzte Ausbildungsvertragspotenzial ist stets so hoch wie die kleinere Zahl der auf beiden Seiten des Ausbildungsmarktes registrierten erfolglosen Teilnahmen (da jeder dieser erfolglosen Teilnahmen zumindest eine erfolglose Teilnahme auf der anderen Marktseite gegenübersteht und infolgedessen in quantitativer Hinsicht das Potenzial vorhanden war, jede dieser Marktteilnahmen zu einem erfolgreichen Vertragsabschluss zu führen).
Im Gegensatz zum ungenutzten Vertragspotenzial ist für die Ermittlung der Passungsprobleme auch relevant, in welchem Ausmaß die Seite mit der höheren Zahl an Marktteilnahmen (2020: die 78.200 erfolglos suchenden Jugendlichen) die kleinere Zahl (2020: die 59.900 unbesetzten Plätze) übertrifft. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es einen Unterschied macht, ob z. B. jeweils 100 unbesetzten Plätzen 150 erfolglos Suchende gegenüberstehen oder sogar 500 erfolglos Suchende. Denn je stärker die Seite mit der größeren Zahl erfolgloser Marktteilnahmen die Seite mit der kleineren Zahl übertrifft, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Angebot und Nachfrage grundsätzlich nicht zusammenpassen. Um zugleich Passungsprobleme begrifflich von Besetzungsproblemen (viele unbesetzte Stellen, aber wenig erfolglos suchende Jugendliche) oder Versorgungsproblemen (viele erfolglos Suchende, aber wenig unbesetzte Stellen) abzugrenzen (vgl. Matthes/Ulrich 2014), gilt, dass Passungsprobleme gegeben sind, wenn zum Bilanzierungsstichtag 30. September sowohl relativ viele unbesetzte Ausbildungsstellen als auch relativ viele erfolglos suchende Jugendliche übriggeblieben sind.
Passungsprobleme
Quantitativ lässt sich das Ausmaß der Passungsprobleme durch Multiplikation der relativen Erfolglosenanteile auf beiden Seiten des Ausbildungsmarktes abbilden. Der „Index Passungsprobleme“ (IP) berechnet sich als Produkt aus dem Prozentanteil der unbesetzten Stellen am betrieblichen Ausbildungsplatzangebot und dem Prozentanteil der noch suchenden Bewerber/-innen an der Ausbildungsplatznachfrage.
Der Wertebereich variiert damit rechnerisch von 0% * 0% = 0 (keinerlei Passungsprobleme, da keine gemeldete Stelle unbesetzt bleibt und kein/-e Nachfrager/-in am Ende des Berichtsjahres noch sucht) bis hin zum nur rechnerisch, aber praktisch kaum möglichen Wert von 100% * 100% = 10.000 (alle gemeldeten Stellen bleiben unbesetzt und alle Nachfrager/-innen suchen am Ende des Berichtsjahres noch weiter).
Durch die multiplikative Verknüpfung wird sichergestellt, dass der Indikator auch dann keine Passungsprobleme anzeigt, wenn zwar massive Besetzungsprobleme vorliegen, aber keine Versorgungsprobleme (im Extremfall 100% * 0% = 0), und umgekehrt, wenn keine Besetzungsprobleme existieren, aber die Versorgungsprobleme groß sind (im Extremfall 0% * 100% = 0).
Als Folge der deutlichen Zuwächse in den Anteilen unbesetzter Ausbildungsplatzangebote und erfolgloser Ausbildungsplatznachfrager/-innen nahmen auch die Passungsprobleme im Jahr 2020 stark zu. Der „Index Passungsprobleme“ erreichte bundesweit einen neuen Höchstwert von IP = 167,7. Dabei fiel er in Ostdeutschland mit nunmehr IP = 227,6 erneut deutlich höher aus als in Westdeutschland mit IP = 157,5.
Ein zentraler Grund für die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt liegt in regionalen Marktungleichgewichten. So verdeutlicht eine Gegenüberstellung der regionalen Anteile unbesetzter Ausbildungsplatzangebote und erfolgloser Ausbildungsplatznachfrager/-innen, dass es oftmals in Regionen mit besonders starken Besetzungsproblemen eher wenige Nachfrager/-innen gibt, die zum Abschluss des Ausbildungsjahres noch auf Ausbildungsplatzsuche sind. In Regionen mit besonders starken Versorgungsproblemen stehen umgekehrt am Ende des Jahres nur noch wenige offene Ausbildungsstellen zur Verfügung. Bundesweit summieren sich beide Phänomene zu relativ hohen Zahlen von unbesetzten Plätzen und noch suchenden Ausbildungsplatznachfragerinnen und -nachfragern Schaubild A1.1.2-1. Während also in vielen Regionen entweder Besetzungs- oder Versorgungsprobleme dominieren, gibt es auch Regionen, die in überdurchschnittlichem Maße von Besetzungs- und Versorgungsproblemen zugleich betroffen sind. Hierzu zählten 2020 z. B. die Arbeitsagenturbezirke Potsdam (IP = 531,4), Neuruppin (IP = 436,8) und Greifswald (IP = 401,4).
Regionale Ausbildungsmarktunterschiede
Die offiziell ausgewiesenen Angebots-Nachfrage-Relationen spiegeln auf der regionalen Ebene nicht die ursprünglichen Verhältnisse vor Ort, sondern die durch (erfolgreiche) Mobilität der Jugendlichen geprägten Marktlagen wider. Denn die erfolgreiche Ausbildungsplatznachfrage wird mit neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen der örtlichen Betriebe gleichgesetzt. Somit sind in dieser Größe auch auswärtige Jugendliche enthalten, während umgekehrt einheimische Jugendliche fehlen, die ihren Ausbildungsvertrag mit einem auswärtigen Betrieb abschlossen. Zwischen den ursprünglichen Marktlagen vor Ort („vor“ Mobilität) und den mobilitätsgeprägten Marktlagen gibt es zum Teil beträchtliche Unterschiede (vgl. Matthes/Ulrich 2018; Herzer/Ulrich 2020; Kapitel A8.2.1).
Die erfolglose Ausbildungsplatznachfrage wird im Gegensatz zur erfolgreichen Nachfrage ausschließlich wohnortbezogen gemessen, auch wenn einheimische Jugendliche sich womöglich ausschließlich außerhalb der Region beworben haben sollten. Auch das Ausbildungsplatzangebot umfasst, ob erfolgreich oder erfolglos, ausschließlich Ausbildungsstellen aus der betreffenden Region.
Schaubild A1.1.2-1: Anteile erfolgloser Marktteilnahmen in den Regionen (Arbeitsagenturbezirken) im Jahr 2020
Ein weiterer zentraler Grund für die zunehmenden Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt besteht in beruflichen Marktungleichgewichten. So gibt es auf der einen Seite Berufe, die von starken Besetzungsproblemen betroffen sind, während sich auf der anderen Seite zahlreiche Berufe finden, in denen viele Ausbildungsplatznachfrager/-innen keinen Ausbildungsplatz finden (Versorgungsprobleme). Wie bereits in den Vorjahren waren 2020 von Besetzungsproblemen vor allem Berufe in der Gastronomie, dem Lebensmittelhandwerk und im Reinigungsgewerbe betroffen, während Versorgungsprobleme oftmals in Medienberufen und in Teilen des kaufmännischen Bereichs auftraten Tabelle A1.1.2-2.
Tabelle A1.1.2-2: Ausbildungsmarktlagen 2020 in ausgewählten Berufen mit Besetzungs- und Versorgungsproblemen
Neben regionalen und beruflichen Unstimmigkeiten tragen auch merkmalbezogene Unstimmigkeiten zwischen Angebot und Nachfrage (z. B. hinsichtlich des (erwarteten) Schulabschlusses oder der (gewünschten) Betriebsgröße) zur Erklärung von Passungsproblemen bei. Daten der BA-Ausbildungsmarktstatistik verdeutlichen, dass die Schulabschlüsse der gemeldeten Ausbildungsstellenbewerber/-innen die von den Ausbildungsplatzanbietern erwarteten (Mindest-)Schulabschlüsse deutlich übertreffen Schaubild A1.1.2-2.
Schaubild A1.1.2-2: Von den Ausbildungsplatzanbietern erwarteter (Mindest-)Schulabschluss und tatsächlicher Schulabschluss der gemeldeten Ausbildungsstellenbewerber/-innen 2020
Vordergründig scheint dies für die Vermittelbarkeit von jungen Menschen in Ausbildung von Vorteil zu sein. Jugendliche tendieren jedoch dazu, einen Ausbildungsberuf zu wählen, der für Personen mit ihrer schulischen Vorbildung typisch ist und ihnen so vermeintliche Vorteile z. B. im Hinblick auf Verdienst, Arbeitsbedingungen und die Akzeptanz ihrer Berufswahl im eigenen sozialen Umfeld bringt (vgl. Matthes 2019; Oeynhausen/Ulrich 2020; Ziegler/Engin/Rotter 2020). Dies führt dazu, dass typische „Abiturientenberufe“ tendenziell zu viele Nachfrager/-innen haben, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, wohingegen die Nachfrage bei typischen „Hauptschülerberufen“ zu gering ausfällt und hier besonders große Besetzungsprobleme entstehen. Im Berichtsjahr 2020 wurde bei 60,4% aller unbesetzten Ausbildungsstellen lediglich ein Hauptschulabschluss erwartet (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2020d).
Gleichzeitig finden sich unter den erfolglosen Nachfragern/Nachfragerinnen längst nicht mehr primär junge Menschen ohne Abschlüsse bzw. mit niedrigen Schulabschlüssen: 2020 verfügten die meisten erfolglos suchenden Nachfrager/-innen über einen mittleren Schulabschluss (29.700 bzw. 38,0%). Weitere 20.200 bzw. 26,0% hatten eine Studienberechtigung und 22.700 bzw. 29,0% der erfolglosen Nachfrager/-innen besaßen einen Hauptschulabschluss. Der Anteil der erfolglos Suchenden ohne (Hauptschul-)Abschluss betrug 1.500 Personen bzw. 1,9% (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2020b).
Der relativ niedrige Anteil von Personen mit Hauptschulabschluss unter den erfolglosen Bewerberinnen und Bewerbern bedeutet jedoch nicht, dass diese Gruppe deshalb auch über die größten Chancen verfügt, Erfolglosigkeit bei ihrer Ausbildungsplatznachfrage zu entgehen. Betrachtet man die (geschätzten) Quoten erfolgloser Nachfrage in Abhängigkeit vom Schulabschluss, zeigt sich vielmehr, dass die Erfolgslosenquote seit einigen Jahren bei den Nachfragerinnen und Nachfragern mit Hauptschulabschluss höher ausfällt als bei Personen mit mittlerem Abschluss und mit Studienberechtigung. 2020 blieben knapp 17% aller Nachfrager/-innen mit Hauptschulabschluss erfolglos, aber nur knapp 13% aller Nachfrager/-innen mit Studienberechtigung bzw. 14% aller Nachfrager/-innen mit mittlerem Abschluss. Auf Grundlage der bisher vorliegenden Daten ist nicht ersichtlich, dass das Krisengeschehen rund um die COVID-19-Pandemie die Zugangschancen für eine bestimmte Gruppe überdurchschnittlich verschlechtert oder verbessert hat. Vielmehr scheint die Krise relativ gleichmäßig die Zugangschancen aller Nachfragegruppen unabhängig vom Schulabschluss gemindert zu haben.