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Im Zuge der Einführung von Bachelorstudiengängen stellte sich vermehrt die Frage nach möglichen Verdrängungseffekten zwischen Bachelorabsolventinnen/-absolventen und beruflich Qualifizierten. Überschneidungsbereiche wurden insbesondere auf Stufe 6 des DQR vermutet, d. h. zwischen gehobenen Fach- und mittleren Führungskräften mit beruflicher Ausbildung und erfolgreich absolvierter Aufstiegsfortbildung einerseits sowie Absolventinnen und Absolventen von Bachelorstudiengängen andererseits. Vor dem Hintergrund steigender Studierendenzahlen und sinkenden Anfängerzahlen im Segment dualer Berufsausbildungen nach BBiG/HwO untersuchte das Forschungsprojekt „Typische Bildungsverläufe in ausgewählten kaufmännischen Berufsbereichen. Konkurrenz und Komplementarität zwischen beruflich und akademisch Qualifizierten“ (TyBi) typische Bildungsverläufe und Karrierewege in den kaufmännischen Berufsbereichen Handel, Banken, Logistik und Tourismus. Das Projekt widmete sich in diesem Zusammenhang auch der zentralen Fragestellung nach konkurrierenden oder komplementären Beziehungen beruflich und akademisch Qualifizierter. Vergleiche zwischen gängigen geregelten Fortbildungen und exemplarischen Bachelor- bzw. Masterstudiengängen in den beschriebenen Branchenbereichen sollten zudem Unterschiede sowie Überschneidungsbereiche im beruflichen bzw. akademischen Aus- und Weiterbildungsgefüge aufdecken.

„Typische Bildungsverläufe in ausgewählten kaufmännischen Berufsbereichen. Konkurrenz und Komplementarität zwischen beruflich und akademisch Qualifizierten“ (TyBi)

Zentrale Inhalte/Fragestellungen

Im Kern des Projektes stand die Frage nach der Konkurrenz zwischen beruflichen und akademischen Bildungswegen sowie Überschneidungen von Tätigkeitsbereichen und Karrierewegen beruflich und akademisch Qualifizierter im kaufmännischen Bereich. Hierzu wurde eine Analyse auf drei verschiedenen Ebenen durchgeführt:

Curriculare Ebene: Gibt es inhaltliche Überschneidungen zwischen beruflichen und akademischen Qualifikationen auf DQR-Niveau 6 (und 7)?

Betriebliche Ebene: Welche komplementären oder identischen Tätigkeitsfelder und Zugangsvoraussetzungen bestehen für mittlere Führungspositionen (DQR-Niveau 6 und 7)?

Individuelle Ebene (Erwerbstätige): Wie schätzen die beruflich und akademisch qualifizierten Erwerbstätigen selbst die Konkurrenzsituation ein?

Methoden

Curriculare Ebene: Dokumentenanalyse in Form eines Curricula-Vergleichs zwischen ausgewählten geregelten Fortbildungen und BA/MA-Studiengängen (DQR-Niveau 6 und 7).

Betriebliche Ebene: Leitfadengestützte Interviews mit Personalleitern/-leiterinnen sowie eine Unternehmensbefragung (2018) in Form einer CATI-Befragung von Personalleitern/-leiterinnen und Geschäftsführern/-führerinnen.

Individuelle Ebene (Erwerbstätige): Leitfadengestützte Interviews mit beruflich und akademisch Qualifizierten (DQR-Niveau 6 und 7); BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012 und 2018; BIBB/BAuA-Nachbefragung 2019 in den vier Branchen Handel, Logistik, Banken und Tourismus.

Insbesondere im Handel und in der Logistik sind berufliche Karrierewege nach wie vor von großer Bedeutung. Hingegen ist der Finanzdienstleistungssektor durch die parallele Bedeutsamkeit von Aufstiegsfortbildungen einerseits sowie von akademischen Qualifizierungswegen anderseits geprägt. Von den betrachteten vier Branchen ist letzterer auch der Sektor mit dem höchsten Akademisierungsgrad. Für den Tourismus lassen sich aufgrund der geringeren Fallzahlen nur schwer Aussagen treffen.

Maßgeblich für die Entscheidung, eine Berufsausbildung aufzunehmen, sind in erster Linie der Schulabschluss (für 78,4% der Befragten war dies aufgrund ihres Real- oder Hauptschulabschlusses eine naheliegende Option), der Praxisbezug einer beruflichen Ausbildung (75% der Befragten nannten dies als wichtigen Grund) sowie gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt (genannt von 72% der Befragten). Weitere wichtige Motive für die Wahl einer Berufsausbildung waren persönliche Fähigkeiten und Neigungen (70%), denen der Beruf am besten entsprach, sowie eine frühe finanzielle Unabhängigkeit (69%).

Für die Entscheidung zum Studium waren in erster Linie persönliche Fähigkeiten und Neigungen ausschlaggebend, die in einem Studium am besten verwirklicht werden können (genannt von 90% der Befragten, die sich für die Aufnahme eines Studiums entschieden haben). Weitere häufig genannte wichtige Gründe waren bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt (74%), ein hohes Interesse an theoretischen Zusammenhängen und wissenschaftlichem Arbeiten (68%) sowie gute Verdienstmöglichkeiten. Im Vergleich zu Befragten, die sich für eine Berufsausbildung entschieden haben, wurden sowohl Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten, als auch Status und Prestige (gesellschaftliches Ansehen) eines Studiums höher bewertet.

Nur eine geringe Relevanz für die Berufsentscheidung beruflich Ausgebildeter hatten die Kosten eines Studiums. Das Anraten von Freunden und Bekannten sowie die Berufsberatung durch Schulen, Arbeitsämter o. Ä. spielten sowohl für die Wahl einer beruflichen als auch einer akademischen Ausbildung keine bedeutende Rolle Tabelle C4.2-1.

Tabelle C4.2-1: Wichtige Gründe für die Wahl einer Berufsausbildung bzw. eines Studiums (Mehrfachnennungen, in %)

Wichtige Motive für die Entscheidung zu einer Aufstiegsfortbildung nach der beruflichen Erstausbildung war insbesondere die persönliche Weiterentwicklung. Darüber hinaus ist auch die Arbeitsmarktverwertbarkeit bedeutsam, d. h. konkret die Aussicht auf bessere Verdienst-, Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten (im Unternehmen). Zudem waren die fachliche Spezialisierung sowie die Vereinbarkeit mit der Berufstätigkeit wichtige Gründe. In der Abwägung zur Aufnahme eines (Fach-)Hochschulstudiums spielen ebenfalls eine größere Praxisnähe sowie ein geringerer zeitlicher Aufwand in der Einschätzung der Befragten eine Rolle.

Auf betrieblicher Ebene ist keine generelle Abkehr der Unternehmen von der dualen Aus- und Weiterbildung festzustellen, die nach wie vor auch für die Personalgewinnung von gehobenen Fach- und mittleren Führungskräften eine wichtige Rolle spielt. In den befragten Unternehmen gibt nur ein geringer Anteil an, akademische Abschlüsse als Voraussetzung zur Erlangung mittlerer Führungspositionen vorauszusetzen. Zugleich hat sich jedoch auch die Bandbreite unterschiedlicher Qualifizierungswege erweitert, bei der insbesondere duale Studiengänge an Bedeutung gewinnen. Diesbezüglich zeigen sich signifikante Unterschiede nach Unternehmensgröße und nach Branche.

Im Vergleich der vier ausgewählten Branchen weist der Banken- bzw. Finanzdienstleistungssektor die höchsten Akademisierungsanteile auf mittlerer Fach- und Führungsebene auf. Zudem haben unterschiedliche Modelle des dualen Studiums in diesem Sektor die größte Verbreitung. Gleichzeitig besitzen jedoch auch Aufstiegsfortbildungen für den Karriereweg von gehobenen Fach- und mittleren Führungskräften eine überdurchschnittlich hohe Bedeutung, was die Relevanz von beruflichen Karrierepfaden unterstreicht. Im Handel, in der Logistik und im Tourismus spielen berufliche Karrierewege nach wie vor eine wichtige Rolle mit einer insgesamt größeren Bedeutung von Aufstiegsfortbildungen im Handel und einer umgekehrt höheren Relevanz von dualen Studiengängen im Tourismus.

Die qualitativ erhobenen Projektergebnisse zeigen im Hinblick auf konkurrierende oder komplementäre Aufgaben und Tätigkeitsfelder von beruflich und akademisch Qualifizierten Folgendes: Insbesondere in der Logistik und im Handel gibt es segmentierte Einsatzbereiche, in denen beruflich Qualifizierte eher operative Führungspositionen bekleiden und akademisch Qualifizierte mit Formalqualifikationen auf vergleichbarem DQR-Niveau eher strategische Führungspositionen, z. B. im Projektmanagement, Human Ressource Management oder Controlling. Allerdings existieren in beiden Segmenten auch Überschneidungsbereiche, in denen es in Zukunft zu Konkurrenzsituationen zwischen beruflich und akademisch Qualifizierten kommen könnte.

Detaillierte Auswertungen zu den Aufgaben und Tätigkeitsbereichen im beruflichen Arbeitsalltag ergeben branchenübergreifend folgendes Bild:

  • Internationale Berufskompetenzen: Akademisch Qualifizierte stehen im Vergleich zu beruflich Qualifizierten häufiger in regelmäßigem Kontakt mit ausländischen Geschäftspartnern/-partnerinnen und Kollegen/Kolleginnen; internationale und interkulturelle Kenntnisse haben tendenziell eine höhere Bedeutung.
  • Personalmanagement und Mitarbeiterführung: Während die Auswahl von neuem Personal in stärkerem Maße von akademisch qualifizierten Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen erfolgt, sind Absolventen/Absolventinnen mit Aufstiegsfortbildung überdurchschnittlich häufig mit der Personaleinsatzplanung betraut. Mit Blick auf Mitarbeiterführung und -förderung zeigen sich keine größeren Unterschiede zwischen beruflich Qualifizierten mit Aufstiegsfortbildung und akademisch Qualifizierten. Gleiches gilt für die Durchführung von Abmahnungs- und Kündigungsgesprächen.
  • Projektarbeit und Projektmanagement: Aufgaben der Projektarbeit und des Projektmanagements werden insgesamt häufiger von akademisch Qualifizierten im Vergleich zu beruflich Qualifizierten durchgeführt. Dies gilt in besonderem Maße für die Entwicklung von Projektideen und die Initiierung von Projekten.
  • Aspekte der Kundenorientierung, die stärker auf den operativen Bereich bzw. die direkte Kundeninteraktion ausgelegt sind, spielen branchenübergreifend in den Aufgaben und Tätigkeitsbereichen beruflich Qualifizierter eine größere Rolle.

Detaillierte Befragungen zu den einzelnen Tätigkeiten unterstreichen insgesamt eine Differenzierung zwischen strategisch-analytischen Tätigkeitsbereichen, die stärker durch akademisch Qualifizierte wahrgenommen, und (strategisch-)operativen Tätigkeiten, die in stärkerem Maße von beruflich Qualifizierten ausgeübt werden. Im Handel z. B. werden Aufgaben der Marktforschung und Marktanalyse häufiger von akademisch Qualifizierten wahrgenommen, wohingegen Tätigkeiten im Bereich der Warenwirtschaft wie z. B. die Verwaltung, Planung und Steuerung von Waren innerhalb der Firma oder zwischen Firma, Lieferanten und Kunden für die Tätigkeit beruflich Qualifizierter eine größere Rolle spielen. Ähnliche Unterschiede zeigen sich auch in der Logistik, wo klassisch operative Bereiche wie Einkauf und Disposition stärker in „beruflicher Hand“ sind, wohingegen auch hier Aufgaben der Marktforschung und Marktanalyse in stärkerem Maße von Akademikern/Akademikerinnen durchgeführt werden.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die „Komplementaritätsthese“ nicht obsolet ist, wenngleich es in einigen Bereichen Überschneidungen gibt.

Hinsichtlich der subjektiv wahrgenommenen Konkurrenz zwischen beruflich und akademisch Qualifizierten zeigen die Einschätzungen der befragten Erwerbstätigen eine insgesamt begrenzte Konkurrenzsituation, die sich allerdings insbesondere nach Branche und Unternehmensgröße unterschiedlich darstellt. So sinkt die Wahrscheinlichkeit einer hohen oder sehr hohen Konkurrenzwahrnehmung bei Beschäftigten in klein- und mittelständischen Unternehmen im Vergleich zu denen in Großunternehmen mit 250 oder mehr Beschäftigten, wo die Wahrscheinlichkeit einer hohen wahrgenommenen Konkurrenz zwischen beruflich und akademisch Qualifizierten Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen am höchsten ist. Im Branchenvergleich zeigen sich insofern Unterschiede, als im Vergleich zur Logistikbranche im Handel und insbesondere im Banken- bzw. Finanzdienstleistungssektor die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Beschäftigten in ihren Tätigkeitsbereichen eine hohe oder sehr hohe Konkurrenz zwischen beruflich und akademisch ausgebildeten Kollegen/Kolleginnen sehen.

(Silvia Annen, Hannelore Mottweiler)