Nationale bildungspolitische Entscheidungen werden nicht nur vor dem Hintergrund nationaler Rahmenbedingungen getroffen, sondern auch im Kontext internationaler Entwicklungen. So spielt der Vergleich von Bildungssystemen mit anderen Staaten bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit des eigenen Bildungssystems eine Rolle. Das Abschneiden in internationalen Rankings auf Grundlage von gemeinsamen Indikatoren wird wahrgenommen und hat Auswirkungen auf nationale Bildungsdebatten. Sie dienen als Argumentationsgrundlage für bildungspolitische Handlungsempfehlungen, nicht zuletzt von internationalen Organisationen wie der EU und der OECD. Von zentraler Bedeutung für die Einordnung der Vergleichsergebnisse in die nationalen Debatten ist dabei die Interpretation der Daten. Die folgenden Ausführungen leisten einen Beitrag, die OECD-Bildungsdaten für den tertiären Bildungsbereich besser einordnen zu können.
Internationale Daten zu höherqualifizierender Berufsbildung sind in den Daten über den tertiären Bildungsbereich enthalten (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development /UNESCO/EUROSTAT 2015). Diese Daten zum tertiären Bildungsbereich umfassen die Bildungsprogramme der ISCED-Niveaustufen 5 bis 8.
International Standard Classification of Education (ISCED)
Die vier Bildungsniveaus des tertiären Bildungsbereichs nach ISCED-2011 umfassen:
Niveau 5: kurze tertiäre Bildungsgänge
Niveau 6: Bachelor- oder gleichwertige Bildungsgänge
Niveau 7: Master- oder gleichwertige Bildungsgänge
Niveau 8: Promotion oder gleichwertige Bildungsgänge
Quelle: Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 24
Die Bildungsprogramme auf diesen Niveaustufen sind teilweise dem Hochschulbereich und teilweise dem Berufsbildungsbereich zuzuordnen und bilden unterschiedliche Formen und Bildungskonzepte ab (BIBB-Datenreport 2020, Kapitel D1.2, Hippach-Schneider u. a. 2017). Die Zuordnung zu dem einen oder anderen Bildungsbereich folgt dabei jeweils der Logik des nationalen Bildungssystems. Eine Differenzierung nach Orientierung der Programme, d. h., ob allgemeinbildend oder berufsbildend ist dabei grundsätzlich auf allen vier Niveaus des tertiären Bildungsbereichs in der ISCED-Klassifikation angelegt, allerdings wird die entsprechende Datenerfassung nur auf dem ISCED-Niveau 5 umgesetzt. Auf diesem Niveau, den sogenannten Kurzstudiengängen („short-cycle programmes“) wird zwischen „vocational programmes“ und „general programmes“ unterschieden. Bei diesen „Kurzstudiengängen“ handelt es sich nach dem Verständnis der ISCED-Systematik in der Regel um kurze zwei- bis dreijährige Bildungsprogramme, in denen „berufsspezifische Kenntnisse vermittelt werden und den Bildungsteilnehmern und -teilnehmerinnen auf den direkten Eintritt in den Arbeitsmarkt vorbereiten“ (Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 246).370 Nach Angaben der OECD belegen im Durchschnitt der OECD-Länder 96% der Bildungsteilnehmer und -teilnehmerinnen in kurzen tertiären Bildungsgängen berufsbildende Bildungsgänge (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 251). Eine Differenzierung zwischen „academic programmes“ oder Programmen mit „professional orientations“ auf den ISCED-Niveaus 6 und 7 findet dagegen nicht statt, da über das Verständnis der Begriffe für die Orientierung der Programme bislang keine internationale Einigung erzielt werden konnte (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development/European Union/UNESCO-UIS 2015, S. 51, 71). Die Meldung für die OECD-Staaten ist somit freiwillig, was zur Folge hat, dass die Informationen über die Programmorientierung unvollständig sind und für einen internationalen Vergleich nicht herangezogen werden können. Dies hat Auswirkungen auf die Interpretation der Daten.
Für die Interpretation und das Verständnis der OECD-Daten ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass bei einigen Indikatoren ausschließlich Daten über formale Bildungsprogramme berücksichtigt werden (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development/European Union/UNESCO-UIS 2015, S. 13). Für die Frage, ob ein Bildungsprogramm zum formalen Bildungssystem gezählt wird, ist das jeweils nationale Verständnis entscheidend. Auf dieser Ebene erfolgt die entsprechende Kategorisierung. Dies hat bei einigen Indikatoren Folgen für die internationale Sichtbarkeit des Umfangs höherqualifizierender beruflicher Bildung, da in diesen Fällen selbst national formal anerkannte Qualifikationen nicht als Bildungsaktivitäten in den OECD-Daten erfasst werden, wenn sie nicht dem nationalen Bildungssystem zugerechnet werden (z. B. in Österreich).
Die für den tertiären Bildungsbereich relevanten Indikatoren der OECD beziehen sich auf die Teilnahme an Bildungsprogrammen (Indikator B1), die Aufnahme (Indikator B4) und den Abschluss (Indikator B5) von Bildungsprogrammen sowie den Bildungsstand der Bevölkerung (Indikator A1) (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020). Die Daten zum Bildungsstand sind darüber hinaus im EU-Kontext relevant, da sie einen der Benchmarks für das europäische Monitoring der Berufsbildungssysteme darstellen (Kapitel D1.2). Im folgenden Abschnitt werden die vier Indikatoren jeweils kurz vorgestellt und die Daten für Deutschland mit dem OECD-Durchschnitt sowie mit ausgewählten Staaten verglichen.371
1. Die Teilnahme an Bildungsprogrammen (Indikator B1), die Aufnahme (Indikator B4) und der Abschluss (Indikator B5) von Bildungsprogrammen
Bei diesen „B-Indikatoren“ werden nur die Daten im Zusammenhang mit Bildungsprogrammen berücksichtigt, die dem formalen Bildungssystem zugerechnet werden. Für Österreich bedeutet dies beispielsweise, dass Höherqualifizierungsaktivitäten teilweise nicht in der internationalen Bildungsstatistik Berücksichtigung finden. Der Grund hierfür ist, dass zahlreiche höherqualifizierende Bildungsprogramme nicht im formalen Bildungssystem angeboten werden, sondern von non-formalen Weiterbildungsträgern sowie in sektor- und branchenspezifischen Kursen (vgl. Schmid 2014). Ähnliches gilt für Deutschland Tabelle D2-1.
Tabelle D2-1: Bildungsbeteiligung im tertiären Bildungsbereich nach Altersgruppen 2018 (in %)
Die Beteiligung an tertiärer Bildung (Indikator B1) wird in Altersgruppen erfasst, z. B. 15- bis 19-Jährige oder 20- bis 24-Jährige. Im OECD-Durchschnitt nahmen 33% der 20- bis 24-Jährigen im Jahr 2018 an einem tertiären Bildungsprogramm teil. In Deutschland waren dies 30%.
Insbesondere zwei Punkte sind an diesen Ergebnissen bemerkenswert. Zum einen die sehr unterschiedliche Beteiligung in den beiden Altersgruppen der einzelnen Länder (1) und zum zweiten die starke Varianz der Teilnehmenden an Bildungsprogrammen auf ISCED-Niveau 5 (2):
- In der Republik Korea, Frankreich sowie den angelsächsischen Staaten Australien, Kanada, Irland und dem Vereinigten Königreich nimmt jeweils bereits ein vergleichsweise hoher Anteil der 15- bis 19-Jährigen an einem tertiären Bildungsprogramm teil. Dies ist ebenso der Fall in Österreich und den Niederlanden mit jeweils 15%. In Deutschland mit 6%, der Schweiz mit 3% und Dänemark mit 1% liegen die Werte deutlich niedriger und auch deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 11%. Der Übergang in den tertiären Bildungsbereich findet dort bereits in einem früheren Alter statt und führt in unterschiedlichem Maße in Programme der Kategorie ISCED-Niveau 5, den sogenannten Kurzstudiengängen siehe (2).
- In den angelsächsischen Ländern handelt es sich bei den Kurzstudiengängen auf ISCED-Niveau 5 insbesondere um Collegeprogramme, die häufig als Teil des Hochschulbereichs betrachtet werden und mit ein- bis dreijährigen Programmen auf Bachelorstudiengänge vorbereiten. Teilweise haben sie eine fachspezifische Ausrichtung und die Lernleistungen können auf anschließende Bachelorstudien angerechnet werden (vgl. Hippach-Schneider u. a. 2018). In England sind dies beispielsweise Programme, die zu sogenannten Foundation Degrees führen, in Irland die Higher Certificate Programmes, in Kanada sind es insbesondere die Programme der Community Colleges (vgl. Skolnik 2018). Neben der Vorbereitung auf den Übergang in den Arbeitsmarkt, haben einige dieser Bildungsprogramme ihre bildungspolitische Funktion auch in der Organisation des Übergangs in den akademischen Bereich, z. B. nach einer vorausgehenden beruflichen Qualifikation.
Besonders auffallend ist jedoch die Quote der Teilnehmenden an Bildungsgängen auf ISCED-Niveau 5 in Österreich, und zwar bezogen auf die Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen. Für diesen vergleichsweise hohen Anteil sorgen die Programme der Berufsbildenden höheren Schulen (BHS).372 Diese führen in fünf Jahren sowohl zu einer allgemeinen Hochschulreife als auch zu einer beruflichen Qualifikation.373 Die Jahrgänge werden dabei statistisch aufgeteilt. Die ersten drei BHS-Klassen werden auf ISCED-Niveau 3 als Sekundarprogramme eingestuft, entsprechend der Lehre oder der Programme der Berufsbildenden Mittleren Schule (BMS), das 4. und 5. Jahr dem ISCED-Niveau 5, dem sogenannten Short-cycle-Niveau.
Erwirbt jemand dagegen in Deutschland zwei Abschlüsse des Sekundarbereichs gleichzeitig oder konsekutiv, z. B. ein Abitur und anschließend eine berufliche Qualifikation wird dieser Teilnehmende ISCED-Niveau 4 zugerechnet, dem sogenannten post-sekundaren/nicht tertiären Bildungsbereich.374 Diese zu Doppel- oder Zweitqualifikationen führenden Programme machen den überwiegenden Anteil der ISCED-Niveau 4 zugeordneten Programme für Deutschland aus. Das schlägt sich in der internationalen Statistik nieder, denn für beide Altersgruppen, sowohl der 15- bis 19-Jährigen, insbesondere aber der 20- bis 24-Jährigen, weist Deutschland im internationalen Vergleich die mit Abstand höchsten Werte auf ISCED-Niveau 4 von 5% bzw. 9% auf (der OECD-Durchschnitt liegt bei 2%; vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 200). Würde dieser Anteil der doppelt Qualifizierten ebenfalls dem tertiären Bereich zugerechnet, läge der statistische Beteiligungsanteil der 20- bis 24-Jährigen für Deutschland deutlich höher. Diese Eigenheit des deutschen Bildungssystems, bzw. die Logik der Zuordnung zur ISCED-Klassifikation können zu dem Eindruck beitragen, dass die Beteiligung im tertiären Bildungsbereich vergleichsweise niedrig ist.
Zu diesem Bild trägt auch bei, dass nicht die Daten derjenigen erfasst werden, die sich im Rahmen einer beruflichen Aufstiegsfortbildung höherqualifizieren (vgl. Kapitel C2.1). Der Grund hierfür ist, dass für die Datenerfassung umfangreiche Informationen über Teilnehmer/-innen, Anfänger/-innen, Absolventen/Absolventinnen, Lehrkräfte und Finanzen von Bildungsanbietern, d. h. in der Regel von den Kammern an das Statistische Bundesamt, geliefert werden müssten. Diese Daten liegen jedoch dem Statistischen Bundesamt nicht im hierfür erforderlichen Umfang vor (vgl. Statistisches Bundesamt 2019), denn es gibt keine gesetzliche Verpflichtung der Bildungsanbieter entsprechende Daten an das Statistische Bundesamt zu melden. Aus diesem Grund sind die verfügbaren Informationen lückenhaft. Diese Unvollständigkeit der Informationen bedeutet, dass die in der Berufsbildungsstatistik des Statistischen Bundesamtes aufgeführten Teilnahmen an Fortbildungs- und Meisterprüfungen nicht an Eurostat für die Erfassung in der ISCED-Klassifikation gemeldet werden, obwohl mit diesen Prüfungen formale Qualifikationen des deutschen Bildungssystems erworben werden.
Dies macht ein weiteres beachtenswertes Charakteristikum der ISCED-Klassifikation deutlich: Ihre Konzeption ist input-orientiert, d. h., es spielen für die Aufnahme und Zuordnung zu den Niveaus die Programmdauer und die mit dem Abschluss erworbenen Zugangsberechtigungen eine Rolle. Das ist eine andere Logik, als die Lernergebnisorientierung, die dem europäischen oder deutschen Qualifikationsrahmen zugrunde liegt. Eine Zuordnung zu ISCED-Niveau 5 sieht eine Programm-Mindestdauer von zwei Jahren vor, eine Zuordnung zu ISCED-Niveau 6 (Bachelor- oder gleichwertige Bildungsgänge) eine übliche Dauer von drei bis vier Jahren (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 24). Dies kann bislang nicht für alle beruflichen Fortbildungsabschlüsse nachgewiesen und die Erfüllung des Kriteriums sichergestellt werden, selbst wenn berufliche Erfahrung und Lernen im Betrieb als formale Lerndauer anerkannt wird. Es findet somit keine automatische Zuordnung der im deutschen Qualifikationsrahmen auf den Stufen 5 und 6 zugeordneten beruflichen Fortbildungsabschlüsse in die ISCED-Klassifikation statt und sie fließen nicht in die internationalen Daten der „B-Indikatoren“ ein.
Ebenfalls auffällig ist der vergleichsweise hohe Anteil an Teilnehmenden an Programmen des ISCED-Niveaus 5 in beiden Altersgruppen in Frankreich. Hierbei handelt es sich insbesondere um zwei zweijährige Bildungsprogramme: das Brevet de Technicien Supérieur (BTS) und das Diplôme Universitaire de Technologie (DUT). Sie firmieren auch unter dem Begriff „bac+2“-Programme.
Die berufsorientierten Bildungsprogramme, die zu einem BTS führen, werden von verschiedenen Bildungseinrichtungen, den Sections de techniciens supérieurs (IST) angeboten, und hier insbesondere von den beruflichen Lycées. Sie beinhalten mindestens ein Praktikum und werden in allen Berufsbereichen und 88 Fachrichtungen angeboten (vgl. Centre Inffo 2019, S. 18). Auch wenn bei einem BTS der Übergang in den Arbeitsmarkt im Vordergrund steht, können BTS-Absolventen und -Absolventinnen im Anschluss im Rahmen eines einjährigen Programms einen beruflichen Bachelor erwerben (Licence professionelle, LP, ISCED-Niveau 6). Das BTS-Programm kann in Form eines apprentissage absolviert werden, das ähnliche Strukturen hat, wie eine duale Ausbildung in Deutschland. Zugangsvoraussetzung für ein BTS-Programm ist ein Baccalauréat (vgl. Hippach-Schneider u. a. 2017a).
Die zweijährigen berufs- und praxisorientierten DUT-Programme werden von Instituts Universitaires de Technologie (IUT) in 24 Fachrichtungen angeboten (vgl. Centre Inffo 2019, S. 18). IUT sind Universitäten angegliedert. Zugangsvoraussetzung ist ebenfalls ein Baccalauréat. Insgesamt haben die DUT-Programme eine andere bildungspolitische Funktion als die BTS-Programme, die auf den Übergang in den Arbeitsmarkt fokussieren. Sie sind eine praxisorientierte Alternative zu universitären Bildungsgängen und ermöglichen gleichzeitig den weiteren Weg in eine akademische Laufbahn. Diese unterschiedliche Funktion wird durch einen Blick auf die schulische Vorbildung der Programmteilnehmenden deutlich. Während bei den DUT-Programmen die Gruppe derjenigen überwiegt, die über ein allgemeinbildendes Abitur (Bac général) verfügt (65,1% im Jahr 2018 und lediglich 1,6% Bac professionel; 33,3% verfügen über ein Bac technologique), überwiegt bei den BTS-Teilnehmenden die Gruppe der Absolventen und Absolventinnen des beruflichen Abiturs (Bac professionel; 40,7% im Jahr 2018 und lediglich 20,4% Bac général; 38,9% verfügen über ein Bac technologique) (vgl. Ministère de L’Enseignement Supérieur 2020, Tab. 07.03.). Die drei Formen des französischen Abiturs verteilen sich sehr unterschiedlich in den beiden alternativen zweijährigen tertiären praxis- und berufsorientierten Bildungsprogrammen.
Die Anfängerquoten (Indikator B4) von Erstanfängern und -anfängerinnen im Tertiärbereich spiegeln die unterschiedliche Relevanz von ISCED-5-Programmen in den Bildungssystemen ebenfalls wider Tabelle D2-2.
Tabelle D2-2: Anfängerquoten und Charakteristika von Erstanfängern und Erstanfängerinnen im Tertiärbereich nach ISCED-Stufen 2018 (in %)
Unter den ausgewählten OECD-Staaten hat Österreich den größten Anteil der Erststudierenden auf ISCED-Niveau 5. In Dänemark gibt es wie in Frankreich auf ISCED-Niveau 5 zweijährige berufsorientierte tertiäre Programme. Der Unterricht an Berufsakademien verbindet theoretisches Wissen mit praktischen Elementen und ist eine Möglichkeit der fachlichen Weiterqualifizierung nach einer Berufsausbildung oder einer weiterführenden Schule. Daneben werden berufsorientierte Bildungsprogramme an beruflichen Akademien angeboten. Diese sind Teil der Erwachsenenbildung und können sowohl im Teilzeit- als auch im Vollzeitmodell absolviert werden. Sie erfordern für den Zugang eine fachlich einschlägige Berufserfahrung sowie eine berufliche Ausbildung. Sie sind zudem kostenpflichtig. Das Durchschnittsalter der Anfänger/-innen von tertiären Programmen ist dementsprechend verhältnismäßig hoch. Zur Schweiz siehe die Ausführungen zu Indikator A1 unten.
Bei den Daten zu den Abschlussquoten von Erstabsolventen und -absolventinnen im Tertiärbereich (Indikator B5) ergeben sich, im Vergleich zu den Daten von Indikator B4 (Anfängerquoten), keine Auffälligkeiten (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 243ff.).
Insgesamt zeigen die B-Indikatoren für Deutschland eine vergleichsweise niedrige Bildungsbeteiligung im tertiären Bildungsbereich. Für eine international vergleichende Analyse der Daten und daraus zu entwickelnder bildungspolitischer Handlungsempfehlungen sind dabei zum einen die ISCED-Systematik sowie die daraus resultierende Erfassungsmethodik zu berücksichtigen und zum anderen die spezifischen nationalen Strukturen und die Organisation der gesamten Bildungssysteme. Der Blick auf einen Bildungsbereich allein, hier dem tertiären Bereich, ist hierfür nicht ausreichend, sondern macht eine Analyse des Gesamtgefüges des Bildungssystems unter Einbeziehung non-formaler Qualifizierungswege notwendig.
2. Bildungsstand (Indikator A1)
Der Bildungsstand der Bevölkerung reflektiert das in einer Gesellschaft vorhandene sogenannte Humankapital. Gemessen wird der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der ein bestimmtes Qualifikationsniveau erreicht und dort einen formalen Abschluss erworben hat. Es ist dabei ausschließlich der höchste Bildungsabschluss ausschlaggebend. Mit einem bestimmten Bildungsstand können individuell unterschiedliche Beschäftigungsquoten und Einkommen verbunden sein. Auch gibt es regelmäßig eine Korrelation zur Teilnahme von Erwachsenen an Weiterbildungsmaßnahmen. Diese statistischen Erfahrungen führen zwangsläufig zu der Vorstellung, dass der Anteil der Bevölkerung, der über eine tertiäre Qualifikation verfügt, so hoch wie möglich sein sollte. Initiiert und unterstützt durch unterschiedliche nationale Maßnahmen ist ein entsprechendes deutliches Wachstum in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren zu verzeichnen Schaubild D2-1.
Die Daten für den Indikator A1 stammen teilweise aus anderen nationalen Datenquellen als die der Indikatorengruppe B. Für Deutschland liegt ihnen beispielsweise der Mikrozensus zugrunde, bei dem die repräsentativ Befragten ihre höchste formale Qualifikation angeben. Zudem werden hier auch non-formale Qualifikationen erfasst, wenn sie im nationalen Kontext als gleichwertig zu formalen Bildungsabschlüssen betrachtet werden. Im Falle Deutschlands finden auch die beruflichen Fortbildungsabschlüsse Berücksichtigung.
Auffällig ist der große Anteil derjenigen mit einem tertiären Abschluss in der Schweiz. Dieser lag im Jahr 2019 in dieser Altersgruppe bei 53% im Vergleich zu Deutschland mit 33%. Dabei ist der hohe Anteil insbesondere den ISCED-Niveaus 6 und 7 geschuldet. Für die Aufteilung des Bildungsstands der 25- bis 34-Jährigen auf die vier tertiären ISCED-Niveaus 5-8 ergibt sich folgendes Bild für die Vergleichsstaaten Tabelle D2-3.
Bei diesem Indikator wird erneut gut sichtbar, dass sich die Bildungssysteme im Hinblick auf Rolle und Funktion der tertiären Bildungsprogramme stark unterscheiden. In einigen Ländern decken die kurzen Programme auf ISCED-Niveau 5 10% (Irland) bis sogar 38% (Kanada) der Tertiärabschlüsse ab Tabelle D2-3. Der Trend zu einer „Tertiarisierung“ findet in unterschiedlicher Form in den OECD-Staaten statt. Die Feststellung einer internationalen „Akademisierung“ ist insofern nur eingeschränkt zutreffend, ganz besonders, wenn darunter umgangssprachlich universitäre Abschlüsse ab Bachelorniveau verstanden wird (siehe auch die Situation in Österreich).
Schaubild D2-1: Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit einem tertiären Bildungsabschluss 2009 und 2019 (in %)
Tabelle D2-3: Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit einem Abschluss im Tertiärbereich nach ISCED 2019 (in %)
Im Fall der Schweiz kann ebenfalls nur begrenzt von einer Akademisierung gesprochen werden, denn die auf ISCED-Niveau 6 erworbenen Abschlüsse beinhalten auch die Abschlüsse der höheren Berufsbildung. Die Höhere Berufsbildung in der Schweiz gliedert sich in zwei Bereiche: die eidgenössischen Prüfungen (Berufs- und höhere Fachprüfungen) sowie die höheren Fachschulen. Die Prüfungsvorbereitung auf die eidgenössischen Prüfungen erfolgt meist mit einem ein- bis eineinhalbjährigen Vorbereitungskurs, der berufsbegleitend absolviert wird. Sie kann aber auch im Selbststudium erfolgen. Die Programme der höheren Fachschulen können berufsbegleitend, teilweise auch in Vollzeit absolviert werden. Vollzeitbildungsgänge dauern mindestens zwei Jahre, die berufsbegleitenden Bildungsgänge in der Regel drei Jahre. Die Absolventinnen und Absolventen erhalten ein eidgenössisch anerkanntes Diplom. Beide Programme werden national als tertiäre Bildung betrachtet und als höhere Berufsbildung dem Hochschulbereich systematisch als gleichwertig zur Seite gestellt (vgl. Hippach-Schneider/Schneider 2018). Diese Gleichwertigkeit ist gesetzlich festgelegt (vgl. Art. 26 BBG). Für das Jahr 2019 gaben in der Altersgruppe der 25- bis 44-Jährigen in der Schweiz als höchsten Abschluss ca. 340.000 Personen einen Abschluss der höheren Berufsbildung an, ca. 732.000 gaben als höchsten Bildungsabschluss eine hochschulische Qualifikation an.375
Auch wenn die Altersgruppe weiter gefasst ist, wird deutlich, dass ein erheblicher Anteil, ca. ein Drittel derjenigen, die einen tertiären Bildungsabschluss als höchste erworbene Qualifikation angeben, über eine höhere berufliche Qualifikation verfügen.
Hier wird ein weiterer Faktor deutlich, der bei der Interpretation der OECD-Daten berücksichtigt werden muss. Die Programme auf ISCED-Niveau 6 sind nicht ausschließlich hochschulisch oder akademisch, sondern es werden auch Programme miteinbezogen, die zu einer höheren beruflichen Qualifikation im Rahmen eines kohärenten Berufsbildungsweges von der Sekundarstufe bis in den Tertiärbereich führen. Des Weiteren kommt hinzu, dass praxis- oder berufsorientierte hochschulische Programme auf ISCED-Niveau 6 wesentlich zur Steigerung der Bildungsstanddaten beigetragen haben. So hat sich beispielsweise der Studierendenanteil in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugunsten der Fachhochschulen verschoben. Der Studierendenanteil im Jahr 2018 lag bei den Fachhochschulen bei 34,9%, bei den Universitäten bei 62%. Im Jahr 2008 lag die Verteilung noch bei 29,6% bei den Fachhochschulen und bei 67,3% bei den Universitäten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, Tab. F1-1web). Der Anteil von dualen Studiengängen an Fachhochschulen auf Bachelorniveau lag 2019 bei 28,6% (Stand Oktober 2019; vgl. ebd., Tab. F1-3web). In Frankreich wurde im Jahr 2002 der berufliche Bachelor (Licence professionelle) eingeführt, das einjährige Programm, das an die BTS- und DUT-Programme angeschlossen werden kann. In zahlreichen Staaten wurde die Berufsbildung im Kranken-, Pflege und Erziehungsbereich auf den Niveaustufen 5 und 6 verortet. Diese Entwicklungen können weniger als Akademisierung, denn als Tertiarisierung charakterisiert werden, in denen berufs- und praxisorientierte Bildungsgänge maßgeblich beitragen.
Aus Sicht der OECD ist tertiäre Bildung eine der „Hauptantriebskräfte[n] der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“, weshalb es zu den wichtigsten Herausforderungen gehöre, dafür Sorge zu tragen, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung im Tertiärbereich hat (Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 188).
Bei einem Blick auf die Beschäftigungsquoten (Indikator A3) wird allerdings deutlich, dass ein tertiärer Bildungsabschluss nicht in allen Staaten zu einer höheren Beschäftigungsquote führt. In über einem Drittel der OECD-Staaten erreichen 25- bis 34-Jährige mit berufsbildenden Abschlüssen im Sekundarbereich II bzw. auf ISCED-Niveau 4 im Jahr 2019 die gleichen oder sogar besseren Beschäftigungsquoten. Dabei handelt es sich bei den ausgewählten Ländern um die Schweiz, Österreich, Kanada, Deutschland und Dänemark, während im OECD-Durchschnitt bei denjenigen mit einem tertiären Bildungsabschluss eine höhere Beschäftigungsquote festgestellt wird Tabelle D2-4.
Es wird deutlich, dass im Hinblick auf die Beschäftigungsfähigkeit, die für den/die Einzelne/n und seiner/ihrer Lebensplanung von großer Bedeutung ist, nicht automatisch eine Bildungspolitik sinnvoll ist, die abgekoppelt von den Bedingungen des Arbeitsmarktes eine stetig steigende tertiäre Abschlussquote anstrebt.
Tabelle D2-4: Beschäftigungsquoten nach Bildungsstand der 25- bis 34-Jährigen 2019 (in %)
3. Zusammenfassung
Tertiäre Bildung ist heterogen und nicht gleichzusetzen mit hochschulischer oder akademischer Bildung. Diese Heterogenität ist ein Spiegelbild für die unterschiedlich organisierten Bildungssysteme. Sie ist eine Chance, in vielfältiger Weise an den jeweiligen Sekundarbereich andocken zu können, und bietet Platz für berufliche Höherqualifizierung, hybride und akademisch/wissenschaftliche Bildungsangebote. Gerade für Länder wie Deutschland mit einem starken Berufsbildungssegment im Sekundarbereich ist die Möglichkeit einer beruflichen Höherqualifizierung und ihre Einordnung als tertiäre Bildung für die Attraktivität dieses Bildungsweges wichtig. Ihre Sichtbarkeit in den internationalen Bildungsdaten der OECD erscheint ausbaufähig. Die zahlreichen formalen Qualifizierungsanstrengungen in den Staaten werden nicht umfassend erkennbar. Bei einer Interpretation der Daten der tertiären Bildung sind diese Heterogenität sowie die Systematik der Datenerfassung deshalb immer zu berücksichtigen.
(Ute Hippach-Schneider)
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370
Nach den Daten der OECD gibt es allgemeinbildende Bildungsprogramme auf ISCED-Niveau 5 lediglich in einigen wenigen Staaten, u. a. in Schweden und dem Vereinigten Königreich (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development 2020, S. 250).
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371
Neben den beiden außereuropäischen Staaten Australien, Kanada und der Republik Korea wurden europäische OECD-Staaten ausgewählt, die über Modelle dualer Ausbildung im Sekundarbereich II verfügen sowie Frankreich, Polen und Finnland mit stark vollzeitschulisch geprägtem beruflichem Ausbildungssystem. Ebenso ausgewählt wurden Irland und das Vereinigte Königreich, die sich durch einen sehr flexiblen tertiären Bildungsbereich auszeichnen.
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372
Darüber hinaus sind auf ISCED-Niveau 5 in Österreich die Kollegs, die Akademien sowie die Programme der (Werk-)Meisterschulen verortet.
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373
Siehe https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulsystem/sa/bmhs.html (Stand: 11.12.2020).
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374
Im Jahr 2018 verfügten 22,5% der Anfänger/-innen einer Berufsausbildung über eine Fach- oder allgemeine Hochschulzugangsberechtigung (BIBB-Datenreport 2020, Kapitel A4.1).
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375
Siehe https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsstand.assetdetail.11627129.html (Stand: 21.12.2020)