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Abiturientenprogramme beinhalten die Verzahnung einer – in der Regel – verkürzten dualen Berufsausbildung auf Niveau 4 des DQR mit einer bundeseinheitlich geregelten beruflichen Aufstiegsfortbildung auf DQR-Niveau 6. Meist besteht darüber hinaus die Möglichkeit, eine Ausbildereignungsprüfung abzuschließen (vgl. hierzu auch Elsholz/Neu/Jaich 2017; Neu/Elsholz/Jaich 2017; Neu 2018).

Zielgruppe dieser spezifischen Qualifizierungsprogramme sind Schulabsolventinnen und Schulabsolventen mit (Fach-)Hochschulreife. Hieraus leitet sich auch der Terminus „Abiturientenprogramm“ ab, der insbesondere vom Einzelhandel geprägt wurde. Erste Vorläufer dieser heutigen Abiturientenprogramme waren dort bereits in den 1970er-Jahren entwickelt worden und haben sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem bedeutsamen Qualifizierungsinstrument für den Führungskräftenachwuchs insbesondere im Verkauf etabliert (vgl. Neu im Erscheinen). Neben gehobenen Fachkraft- und mittleren Führungspositionen im Verkauf wie z. B. als Team-, Bereichs-, Abteilungs- oder Filialleitung können berufliche Einsatzgebiete für Absolventinnen und Absolventen dieser Programme auch im Bereich Personal, Marketing, Sales- oder Key-Accountmanagement verortet sein sowie im Einkauf, im Controlling, in der Logistik, im Vertrieb oder in der Verwaltung (vgl. Handelsverband Deutschland 2020).

Schaubild C2.1.6-1 stellt die wesentliche Grundstruktur dieser Abiturientenprogramme am Beispiel des Einzelhandels dar. Hier können Teilnehmende innerhalb von etwa drei Jahren sowohl einen beruflichen Ausbildungs- als auch einen beruflichen Fortbildungsabschluss erwerben. In der konkreten Umsetzung dieser Qualifizierungsprogramme zeigen sich je nach Unternehmen jedoch teilweise deutliche Unterschiede. So kommt bspw. dem Lernort Berufsschule je nach Abiturientenprogramm eine unterschiedlich starke Relevanz zu (vgl. Neu im Erscheinen).

Schaubild C2.1.6-1: Abiturientenprogramme im Einzelhandel

Verbreitung von Abiturientenprogrammen

Ergebnisse einer Stellenanzeigenanalyse zeigen einen kontinuierlichen Anstieg von 2.187 Stellenausschreibungen für Abiturientenprogramme im Jahr 2015 auf 16.142 Stellenanzeigen im Jahr 2019 (vgl. Helmrich/Winnige im Erscheinen). Besonders verbreitet sind Abiturientenprogramme demnach in kaufmännischen Berufen, insbesondere für Verkaufskräfte und Führungskräfte im kaufmännischen Bereich, auf die 95% der Stellenanzeigen in dieser Studie entfielen (ebd., S. 10).314 Für den Handel lassen sich auf Basis der Ausbildungsmarktstatistik der BA Informationen über die Anzahl der dort gemeldeten Stellen sowie zur Anzahl der davon unbesetzten Stellen in den dort als Abiturientenausbildungen geführten Qualifizierungsprogrammen erhalten. Wie Schaubild C2.1.6-2 zeigt, spiegeln diese Zahlen der Ausbildungsmarktstatistik für die im Handel am häufigsten anzutreffenden Abiturientenprogramme mit Abschlussziel „Geprüfte/-r Handelsfachwirt/-in“ einen kontinuierlichen Anstieg der angebotenen Stellen innerhalb der letzten zehn Jahre wider – zugleich aber auch einen Anstieg der unbesetzten Stellen.

Zur Nutzung bzw. zum Angebot von Abiturientenprogrammen durch Unternehmen existieren darüber hinaus Unternehmensbefragungsdaten des BIBB, die 2018 für die Branchen Handel, Logistik, Tourismus und die Finanzdienstleistungsbranche erhoben wurden.315 Tabelle C2.1.6-1 zeigt eine im Branchenvergleich höhere Relevanz solcher Programme im Finanzdienstleistungssektor und im Handel. Hier bieten 22,6% der Handelsunternehmen bzw. 24,6% der Finanzdienstleistungsunternehmen solche Programme an, wohingegen die Verbreitung unter Unternehmen im Tourismus (13,9%) und in der Logistik (11,8%) deutlich geringer ist. Auch im Vergleich zu dualen Studiengängen, die eine alternative Strategie von Unternehmen zur Rekrutierung von mittleren Fach- und Führungskräften darstellen, ist die Verbreitung von Abiturientenprogrammen geringer; dies gilt insbesondere für die Finanzdienstleistungsindustrie sowie die Tourismus- und Logistikbranche (vgl. Mottweiler/Annen 2020).

Schaubild C2.1.6-2: Verbreitung von Abiturientenprogrammen mit Abschluss „Geprüfte/-r Handelsfachwirt/-in“

Tabelle C2.1.6-1: Nutzung von Abiturientenprogrammen in ausgewählten Branchen

Motive und Kontextfaktoren zur betrieblichen Nutzung von Abiturientenprogrammen

Zentrale Motive von Unternehmen für die Etablierung solcher Programme sind zum einen eine längerfristige Bindung von leistungsstarken Schulabsolventinnen und -absolventen an das Unternehmen und zum anderen eine Attraktivitätssteigerung des Unternehmens für Schulabsolventen und -absolventinnen mit (Fach-)Hochschulreife. Dies ist branchenübergreifend für 40,4% (längerfristige Bindung) bzw. 33,9% (Attraktivitätssteigerung) der Unternehmen der wichtigste Grund für das Angebot solcher Programme. Eine schnellere Qualifizierung von Personal für mittlere Fach- und Führungspositionen gaben 25,7% der Unternehmen als wichtigstes Motiv an Tabelle C2.1.6-2. Damit existieren signifikante Ähnlichkeiten in den Motiven zur Etablierung von Abiturientenprogrammen und dualen Studiengängen (vgl. Mottweiler u. a. 2018; Mottweiler/Annen 2020).

Tabelle C2.1.6-2: Wichtigster Grund für das Angebot von Abiturientenprogrammen

Analysen zur Nutzung von Abiturientenprogrammen und dualen Studiengängen durch Unternehmen deuten auf eine enge Verbindung der beiden Aus- und Fortbildungsstrategien hin: Unternehmen, die duale Studiengänge anbieten, nutzen mit größerer Wahrscheinlichkeit auch Abiturientenprogramme (vgl. Mottweiler/Annen 2020). Darüber hinaus verdeutlichen sowohl Befragungsdaten, als auch Fallstudien, dass sich das Angebot von Abiturientenprogrammen hauptsächlich auf Großunternehmen und mittelständische Unternehmen mit 50 bis 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschränkt (vgl. Mottweiler u. a. 2018). Unter Bezugnahme auf qualitative Forschungsergebnisse lassen sich diese Ergebnisse durch einen höheren finanziellen und personellen Aufwand solcher Programme erklären, die von größeren Unternehmen leichter bewältigt werden können. Zudem untermauern branchenspezifische Effekte die spezifische Relevanz von Abiturientenprogrammen im Handel sowie im Finanzdienstleistungssektor (vgl. Mottweiler/Annen 2020).

Durch den Rückgriff auf etablierte Strukturen beruflich-betrieblicher Bildung können Abiturientenprogramme aber durchaus auch für andere Branchen sowie kleinere Unternehmen eine Option der Fachkräftequalifizierung darstellen; insbesondere dann, wenn im Rahmen eines solchen Abiturientenprogrammes mit staatlichen Bildungseinrichtungen wie bspw. mit einer staatlichen Berufsschule kooperiert wird. Gerade bei größeren Unternehmen mit Abiturientenprogrammen ist dies nach bisherigen Erhebungen seltener der Fall. Sie kooperieren vermehrt mit nicht staatlichen Bildungseinrichtungen, woraus sich dann auch ein größerer finanzieller Aufwand ergibt (vgl. Neu im Erscheinen).

Vor diesem Hintergrund dürfte es für kleine und Kleinstunternehmen weniger der mit Abiturientenprogrammen verbundene finanzielle Aufwand sein, der eine Hürde hinsichtlich der Nutzung dieser spezifischen Qualifizierungsprogramme darstellt. Vielmehr könnten es die im Vergleich zu Großbetrieben deutlich eingeschränkten Karriereoptionen sein, die kleine und Kleinstunternehmen den Absolventinnen und Absolventen solcher Programme bieten können.

Dennoch lässt sich abschließend auf Basis bisheriger Forschungsergebnisse festhalten, dass die Abiturientenprogramme durchaus als ein gelungenes Beispiel für die Verzahnung von beruflicher Aus- und Fortbildung betrachtet werden können. Für die Unternehmen stellen sie eine praktikable Strategie der Nachwuchsgenerierung dar und für die Teilnehmenden einen relativ verlässlichen und von den anbietenden Unternehmen geförderten Karriereweg.

(Hannelore Mottweiler, Ariane Neu)

  • 314

    Zur methodischen Bewertung dieser Ergebnisse ist jedoch einschränkend zu beachten, dass im Rahmen dieser Studie Stellenanzeigen für Abiturientenprogramme ausschließlich nach der Zeichenkette „Abiturientenprogramm“ ausgewählt wurden. Nachfolgende empirische Ergebnisse zeigen jedoch auch für andere Branchen wie dem Finanzdienstleistungssektor eine Verbreitung solcher Programme, die allerdings hier nicht als „Abiturientenprogramme“ bezeichnet werden. Qualitative und quantitative Ergebnisse des in der nächsten Fußnote genannten Projekts (4.1.303) deuten darauf hin, dass der Terminus „Abiturientenprogramm“ schwerpunktmäßig im Einzelhandel verwendet wird.

  • 315

    Repräsentative Unternehmensbefragung 2018 (BIBB-Projekt 4.1.303), n = 802; Ausschöpfungsquote 40,8%. Branchendefinitionen: Handel (WZ 46, 47), Logistik (WZ 49, 50, 51, 52, 53), Finanzdienstleistungen (WZ 64), Tourismus (WZ 79, 55, 56).