Die berufliche Aus- und Weiterbildung der in Deutschland ansässigen Bevölkerung trägt maßgeblich zur Fachkräftesicherung bei. Das Berufsbildungssystem wird stetig weiterentwickelt, um bspw. Passungsprobleme auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt zu verringern (vgl. Schwerpunkthema „Ausbildungs-Mismatch heute – Fachkräfteengpässe morgen und übermorgen“ im BIBB-Datenreport 2015, Kapitel C), neuen Zielgruppen die duale Ausbildung als attraktive Alternative darzustellen, z. B. studienberechtigten Jugendlichen oder Studienabbrecherinnen/Studienabbrechern, und Angebote für junge Menschen zu schaffen, die Unterstützung benötigen, um ihre berufliche Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Es sind Ansatzpunkte, die in erster Linie auf die Qualifizierung in Deutschland geborener und aufgewachsener Menschen zielen. Daher können die Ausführungen zu zahlreichen Indikatoren für die Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems im vorliegenden Datenreport auch aus Perspektive der Fachkräftesicherung gelesen werden, selbst wenn sie primär nicht hierunter firmieren.
In diesem Schwerpunktkapitel wurde dem Beitrag von qualifizierter Zuwanderung zur Fachkräftesicherung nachgegangen. Im Fokus stehen nach Deutschland kommende Menschen, die ihre beruflichen Kompetenzen/Qualifikationen im Ausland erworben haben oder als junge Erwachsene im ausbildungsfähigen Alter einreisen und zeitnah eine berufliche Ausbildung aufnehmen. Ihr Beitrag zur Fachkräftesicherung ist als Ergänzung der Anstrengungen zur Qualifizierung bereits in Deutschland lebender Menschen zu verstehen.404
Inhalte aus allen Beiträgen dieses Schwerpunktkapitels zu den verschiedenen Themenbereichen lassen sich in der Zusammenschau zu drei Kernaussagen bündeln. Sie werden im Folgenden dargestellt und abschließend um einen Ausblick ergänzt.
1. Personen mit unterschiedlichen Wanderungsmotiven leisten einen Beitrag zur Fachkräftesicherung.
Die Ausführungen haben deutlich gemacht, dass unterschiedliche Gruppen von qualifizierten Zuwanderinnen und Zuwanderern nach Deutschland kommen, eine Beschäftigung aufnehmen und damit einen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Dies sind Zuwandernde, die zum Zwecke der Erwerbstätigkeit einreisen und über einen im Ausland erworbenen Berufsabschluss verfügen, der als gleichwertig anerkannt wurde. In den Jahren 2012 bis 2020 wurden 205.359 Anträge zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen für bundesrechtlich geregelte Berufe gestellt. Der Fachkräftebedarf wird jedoch auf 400.000 Zuwandernde jährlich beziffert. Allein aus quantitativer Sicht reicht die Zuwanderung über das Instrument „Anerkennung“ zur Fachkräftesicherung bei weitem nicht aus. Die Ausführungen zum Thema Anerkennung machen zudem deutlich, dass hierüber Fachkräfte für bestimmte Berufsbereiche besonders gut gewonnen werden können, z. B. für den Gesundheitsbereich. Für das Handwerk dagegen müssen bislang alternative Wege gefunden werden. Die Arbeitsmarktintegration von qualifizierten Zuwanderinnen und Zuwanderern mit anderen Wanderungsmotiven als dem der Erwerbstätigkeit ist daher zur Fachkräftesicherung quantitativ und qualitativ unumgänglich. Dies wird am Beispiel der Geflüchteten deutlich.
Als weitere Gruppe wurde auf junge Geflüchtete eingegangen, die eine betriebliche Ausbildung aufgenommen haben. Aus Perspektive der Fachkräftesicherung sei hier zudem auf Personen hingewiesen, die im Zuge des Familiennachzugs oder als Studierende nach Deutschland kommen (siehe: Bruder, Burkhart, Wiktorin 2015; Borowsky, Schiefer, Neuhauser, Düvell 2020).
2. Fachkräftesicherung durch qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer unterliegt, insbesondere aufgrund des Migrationsgeschehens selbst, erheblichen Unwägbarkeiten.
Wie die Zuwanderung von Geflüchteten ab 2014, aber auch in den 1990er-Jahren gezeigt hat, beeinflussen bspw. kriegerische Konflikte das Wanderungsgeschehen erheblich. In kurzer Zeit kam eine große Zahl von Menschen nach Deutschland, die entsprechend den jeweils geltenden Gesetzen sowie den beruflichen und persönlichen Voraussetzungen in den Arbeitsmarkt integriert wurden. Möglicherweise hat die Coronapandemie zu einer Einschränkung der grenzüberschreitenden Mobilität geführt, was den Rückgang des Zuzugs von jungen Menschen, die als Bildungsausländer/-innen zum Zwecke des Studiums nach Deutschland kommen, erklären dürfte. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass das Migrationsgeschehen nur bedingt voraussehbar und planbar ist. Aus dieser Unvorhersehbarkeit ergeben sich Chancen, die im Sinne aller Beteiligten zu nutzen sind: für die Fachkräftesicherung und für die Menschen, die in Deutschland eine neue Lebensperspektive suchen.
3. Damit Zuwanderinnen und Zuwanderer ihre im Ausland erworbenen Qualifikationen bzw. Kompetenzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt einbringen können, sind günstige Rahmenbedingungen erforderlich.
Grundlegend hierfür sind die rechtlichen Regelungen des Zuzugs nach Deutschland, des Zugangs zum Arbeitsmarkt und in diesem Zusammenhang der Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen. In den letzten Jahren wurden hier Erleichterungen geschaffen, die als Paradigmenwechseln eingeordnet werden. Zu berücksichtigen sind zudem institutionelle Regelungen auf beruflicher Ebene wie bspw. die Lizenzierung, die ggf. den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Werden Schließungsmechanismen festgestellt, sind sie kritisch zu diskutieren.
Für Personen mit einem im Ausland erworbenen Berufsabschluss, dessen Gleichwertigkeit über das Anerkennungsgesetz festgestellt wurde, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt leichter als für Geflüchtete. Gleichwohl werden für diese Personen Anpassungsqualifizierungen benötigt, deren Finanzierung zu sichern ist. Für Geflüchtete wurde gezeigt, dass ein erheblicher Anteil von ihnen Beschäftigungen unterhalb des Tätigkeitsniveaus ergreift, das sie im Herkunftsland innehatten. Damit Zuwanderinnen und Zuwanderer vorhandene Qualifikationen/Kompetenzen auch in Deutschland einbringen können und einem Downgrading entgegengewirkt wird, wird ein ausdifferenziertes System an unterstützenden Angeboten zur Integration in den Arbeitsmarkt benötigt. In diesem Schwerpunkt wurden Verfahren der Feststellung und Zertifizierung von im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen/Kompetenzen vorgestellt. Die Verfahren ermöglichen es, die ermittelten Qualifikationen/Kompetenzen bei einer Bewerbung einzubringen. Dass hierbei verschiedene Verfahren benötigt werden, die an unterschiedlichen Punkten der beruflichen Orientierung ansetzen, wurde deutlich gemacht. Zentral für die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt sind zudem ausreichende Sprachkompetenzen. Für den Erwerb allgemeiner und berufsspezifischer Kompetenzen in der deutschen Sprache ist über die Jahre ein ausdifferenziertes Kurssystem entwickelt worden, das auch zukünftig bedarfsgerecht weiterzuentwickeln ist. Es wurde bspw. darauf hingewiesen, dass die Angebote flächendeckend vorzuhalten und arbeitsplatznahe Formate der Sprachförderung zu erproben sind.
Die Passung des Unterstützungssystems und die Güte der Angebote dürften maßgeblich zum Ge- bzw. Misslingen der Arbeitsmarktintegration der verschiedenen Gruppen beitragen und sich entsprechend auf die Fachkräftesicherung auswirken.
Die Diskussion um Fachkräftesicherung ist auf den Arbeitsmarkt, auf Beschäftigung und die Verwertung von Kompetenzen/Qualifikationen fokussiert. Das Thema ist jedoch umfassender zu diskutieren.
Wird über Fachkräftesicherung durch Zuwanderung diskutiert, richtet sich der Blick insbesondere auf arbeitsmarktpolitische Erfordernisse. Aktuell wird immer wieder kritisiert, dass allein die Verwertbarkeit von beruflich nutzbaren Qualifikationen/Kompetenzen von Zuwanderinnen und Zuwanderern in den Mittelpunkt gerückt, andere Aspekte von Integration jedoch vernachlässigt werden. Qualifizierte Zuwandernde, die in Deutschland eine Beschäftigung aufnehmen, kommen ggf. nicht allein oder wollen ihre Familienangehörigen nachholen. In diesen Fällen sind auch für die Familienangehörigen Qualifizierungs- und Bildungsangebote vorzuhalten, die die berufliche und schulische Entwicklung fördern. Aus der jahrzehntelangen Integrationserfahrung in Deutschland ist bekannt, dass Integration umfassend erfolgen muss, soll sie langfristig gelingen. Die Integration in Arbeit ist ein Aspekt.
Fachkräftesicherung durch Zuwanderung wird in Deutschland, aber auch in anderen Ländern diskutiert. Die OECD bspw. befasst sich mit vergleichbaren Themen und stellt für EU- und OECD-Länder fest, dass diese „have introduced or reinforced policies to attract labour migrants, in particular the highly-educated“ (Damas de Matos/Liebig 2014, S. 188). Die Autorin/der Autor attestieren diesen Staaten, die nicht als klassische Einwanderungsländer zu bezeichnen sind, bspw. die Überqualifizierung bzw. unterwertige Beschäftigung von im Ausland im Vergleich zu im Inland qualifizierten Personen (vgl. ebd., S. 201ff.), eine Problematik, die in diesem Schwerpunkt insb. für Geflüchtete festgestellt wurde. Ansätze zur Fachkräftesicherung durch qualifizierte Zuwanderung in Deutschland sind vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion zu reflektieren, auch um weitere Lösungsansätze zu entwickeln. Dies gilt selbstredend auch für die Steuerung von Zuwanderung durch ein Punktesystem, wie es in Einwanderungsländern besteht und immer wieder auch in Deutschland diskutiert wird. Hierauf wird in Kapitel D2 des vorliegenden Datenreports am Beispiel Australiens und Kanadas eingegangen. Nicht zuletzt ist die Diskussion um Fachkräftezuwanderung in globale Zusammenhänge einzuordnen, um die Chancen und Risiken der Wanderung von qualifizierten Menschen für die Ziel- und Herkunftsländer zu reflektieren.
Die Fachkräftesicherung durch qualifizierte Zuwanderung umfasst in Deutschland mehrere Säulen. Die gezielte Gewinnung qualifizierter Kräfte mit als gleichwertig anerkanntem Berufsabschluss ist eine davon. Weitere Säulen sind beruflich bereits qualifizierte Zuwandernde, die mit anderen Wanderungsmotiven nach Deutschland kommen, bspw. Flucht und Bildung (vgl. Graf 2021). Ob sich der Zuzug zum Zwecke der Ausbildung, z. B. im dualen System, zu einer weiteren Säule entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Soweit rechtlich ein Zugang besteht, können Personen aus unterschiedlichen Zuwanderergruppen Angebote des differenzierten Systems der Integrationsförderung in den Arbeitsmarkt und in berufliche Ausbildung in Anspruch nehmen. Wie anpassungsfähig dieses ist, wurde im Zuge der jüngsten Zuwanderung von Flüchtlingen ab 2014 deutlich. Zeitnah wurden innovative Konzepte für die Berufsvorbereitung der in großer Zahl eingereisten ausbildungsfähigen jungen Menschen entwickelt und umgesetzt. Zur Integration von qualifizierten Zuwanderinnen und Zuwanderern ist dieses System unabdingbar und als eine Stärke Deutschlands anzusehen. Möglicherweise hat die Tatsache, dass es in Deutschland noch keine Zuwanderungsregelung mit einem Punktesystem wie in anderen Einwanderungsländern gibt, dazu geführt, dass Angebote für die Arbeitsmarktintegration breit aufgestellt wurden. Dieses System trägt nun zur Arbeitsmarktintegration unterschiedlicher Zuwanderergruppen bei. Es ist insgesamt weiterzuentwickeln und bedarfsgerecht auszudifferenzieren, um der Dynamik und Spezifik des Migrationsgeschehens zu entsprechen.
(Anke Settelmeyer)
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Vgl. auch den Schwerpunkt „Fachkräftemigration“ in Bundesinstitut für Berufsbildung 2022