Die Fachkräftesicherung in Deutschland beruht im Kern auf der Qualifizierung im Inland. Rund 550.000 junge Menschen absolvierten im Jahr 2019 eine vollqualifizierende duale oder schulische Berufsausbildung (vgl. Statistisches Bundesamt 2020a; Dionisius u. a. 2022) und rund 510.000 schlossen ein Studium in Deutschland ab.376 Des Weiteren gab es im Jahr 2019 rund 120.000 Absolventinnen und Absolventen einer höherqualifizierenden Berufsbildung.377 Angesichts von demografisch bedingtem Rückgang der Schulabgängerzahlen und strukturellen Problemen (BIBB-Datenreport 2020, Kapitel A, A1) reicht dies jedoch nicht zur Deckung des Fachkräftebedarfs aus (Kapitel C1). Einen wichtigen Beitrag zur Milderung des Fachkräftemangels liefert daher auch die Arbeitsmarktintegration im Ausland qualifizierter Fachkräfte. Damit sie ihre Berufsqualifikationen auf dem vergleichsweise zertifikatsorientierten deutschen Arbeitsmarkt nutzen können, ist eine formale Anerkennung förderlich. Sie ist sogar zwingend erforderlich bei sog. reglementierten Berufen wie im medizinischen oder pädagogischen Bereich. Wie im Folgenden deutlich wird, stehen dem deutschen Arbeitsmarkt durch Anerkennungs- und Zeugnisbewertungsverfahren jährlich Zehntausende Fachkräfte zusätzlich zur Verfügung.
Seit zehn Jahren regelt das Anerkennungsgesetz die formale Anerkennung für die Berufe in Zuständigkeit des Bundes. Analog gelten Anerkennungsgesetze der Länder. Personen, deren im Ausland erlernter Beruf in Deutschland nicht reglementiert ist, sowie alle in Drittstaaten qualifizierten Fachkräfte haben überhaupt erst seit Inkrafttreten der Anerkennungsgesetze einen Rechtsanspruch auf Prüfung der Gleichwertigkeit ihres Abschlusses. Die Nachfrage nach Anerkennung ist über die Jahre gestiegen, insbesondere von Fachkräften mit Abschlüssen aus Drittstaaten (Kapitel D4). 2020 haben die für die Anerkennung zuständigen Stellen in rd. 28.370 Fällen positiv über die ihnen vorgelegten Anträge entschieden.378 Die Bescheide konnten somit unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden, soweit nicht weitere berufs- oder einwanderungsrechtliche Bedingungen dem entgegenstanden. Daneben gibt es für Hochschulabschlüsse, die nicht auf eine in Deutschland reglementierte Tätigkeit zielen, die Möglichkeit der Zeugnisbewertung, einer vergleichenden Einstufung (vgl. Erbe 2020, S. 100f.). 2020 hat die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) 28.725 solcher Anträge bearbeitet.379 Da die Datenbank anabin – Informationssystem zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse Einstufungen der ZAB frei zugänglich listet, dürfte zusätzlich eine – statistisch nicht erfasste – Anzahl von ausländischen Hochschulabsolventinnen und -absolventen direkt mit Verweis darauf Arbeitgeber und Botschaften380 von ihrer Fachkraft-Eigenschaft überzeugen können.
Anerkennungsgesetze von Bund und Ländern
Am 1. April 2012 trat auf Bundesebene das Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen – kurz Anerkennungsgesetz – in Kraft.383 Es handelt sich dabei um ein Artikelgesetz, das neben dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) auch Änderungen und Anpassungen in den berufsrechtlichen Fachgesetzen und -verordnungen beinhaltet (bspw. in der HwO und der Bundesärzteordnung).
Zwischen August 2012 und Juli 2014 traten 16 Anerkennungsgesetze der Länder in Kraft, die entsprechende Regelungen für Berufe in Länderzuständigkeit beinhalten. Je nach Beruf und Land ist die Anerkennung durch das BQFG, Fachrecht und Verordnungen oder eine Verbindung von beidem geregelt (vgl. Ekert u. a. 2019, S. 73).
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) (Kapitel C2.2) knüpft grundsätzlich Erwerbsmigration an formale Anerkennung.381 Zugleich schafft es einen neuen Weg, die Fachkraft-Eigenschaft festzustellen – als Ausnahmeregelung zur formalen Anerkennung. Sie wird zwar bisher nur für IT-Fachkräfte und in kleineren Fallzahlen angewendet,382 doch wird eine Ausweitung bereits diskutiert (siehe z. B. Sachverständigenrat für Integration und Migration 2021).
Personen ohne Berufsabschluss fehlt die Voraussetzung für ein Anerkennungsverfahren, selbst wenn sie über berufliche Kompetenzen verfügen. Für sie kommen unter Umständen Alternativen wie Valikom (Kapitel C4.1) oder eine Externenprüfung infrage. Auch im Rahmen des Anerkennungsverfahrens kann eine Kompetenzfeststellung durchgeführt werden, wenn Unterlagen zu einem vorhandenen Abschluss fehlen (Kapitel C3.4.5).
Die öffentliche Hand fördert die Anerkennung mit einer Vielzahl an Begleitmaßnahmen von Information über Beratung bis hin zu Kostenübernahme, Anwerbung und Strukturbildung im In- und Ausland, dauerhaft und befristet (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014, 2015, 2016, 2017, 2019; Elsässer/Wiemers 2022). Mittelfristig soll auch eine elektronische Antragstellung möglich werden.384
Im Ergebnis stehen Deutschland zusätzliche Fachkräfte für ein breites Spektrum an Berufen zur Verfügung. So entfielen 2020 allein die Anträge nach Bundesrecht auf über 300 verschiedene Berufe, vorrangig auf bestimmte Gesundheitsberufe, aber auch auf nicht reglementierte Berufe (Kapitel D4). Die Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten hat die Zahl jener aus der EU überholt; zugleich ist der Anteil der bereits vom Ausland aus gestellten Anträge gestiegen (Kapitel C3.4.3). Inzwischen kommt jeder dritte Antrag aus dem Ausland. Einer aktuellen BIBB-Betriebsbefragung zufolge beschäftigen rund 9 % der Betriebe in Deutschland mindestens eine/-n sozialversicherungspflichtig Beschäftigte/-n mit anerkanntem ausländischen Berufsabschluss. Darüber hinaus haben andere Studien bereits positive Effekte einer Anerkennung für im Ausland Qualifizierte auf den deutschen Arbeitsmarkt belegt (Kapitel C3.4.2). Die Anerkennungsverfahren sind nicht nur als Instrument der Übersetzung von im Ausland erbrachten Bildungsleistungen zu sehen. Vielmehr führen sie in sehr vielen Fällen zu weiteren Bildungsleistungen, mit dem Ziel, die volle Gleichwertigkeit zu erreichen. Ob allerdings die durch das FEG gestärkte Absicht der vollen Gleichwertigkeit immer förderlich ist, bleibt zu beobachten. Die bereits jetzt sichtbaren Herausforderungen im Angebot von Qualifizierungen (Kapitel C3.4.4) dürften sich jedenfalls angesichts von steigenden Bedarfen infolge der oben genannten Trends noch verschärfen. Bei allen Erfolgen bleibt weiterhin zu untersuchen, inwieweit das vorhandene Fachkräftepotenzial bereits ausgeschöpft wird, und wo möglicherweise Fachkräfte im Verfahren Verzögerungen erleben oder gar „verloren“ gehen.
(Jessica Erbe)
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376
Rund 320.000 schlossen ein Bachelorstudium ab, rund 190.000 ein Master- oder Promotionsstudium (vgl. Statistisches Bundesamt 2020b).
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377
Das heißt Fortbildungsprüfungen nach BBiG/HwO sowie Weiterbildungen an Fachschulen/Fachakademien nach Landesrecht (vgl. Statistisches Bundesamt 2020c, 2020d; Dionisius u. a. 2022).
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378
Insgesamt nach Bundes- und Landesrecht, darunter 24.858 „positiv – volle Gleichwertigkeit“, 3.285 „teilweise Gleichwertigkeit“, 12 „positiv – beschränkter Berufszugang nach HwO“ und 216 „positiv – partieller Berufszugang“ (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). Nicht enthalten sind positive Bescheide mit „Auflage“ einer Ausgleichmaßnahme, weil diese erst nach späterer Absolvierung der Maßnahme wirken.
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379
Angaben nach ZAB-Statistik 2020
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380
Siehe Auswärtiges Amt 2021, 2021, S. 3
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381
Die Verknüpfung wird auch kritisch diskutiert, vgl. Liebig 2021; Sachverständigenrat für Integration und Migration 2021.
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382
Zwischen März und Dezember 2020 wurden 688 Aufenthaltserlaubnisse nach § 19c Abs. 2 AufenthG für „ausgeprägte berufspraktische Kenntnisse“ erstmals erteilt, bei 59.109 im Rahmen der Erwerbsmigration insgesamt (vgl. Graf 2021, S. 17).
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383
Gesetz vom 06.12.2011 BGBl. I S. 2515. Für genauere Darstellungen vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014
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384
Siehe Onlinezugangsgesetz unter ozg.rlp.de/fileadmin/ozg/Neues_aus_OZG_Foederal_02-21.pdf (Stand 4.11.2021)