50 Jahre BIBB - Zeitzeugen erzählen: Manfred Kremer
Manfred Kremer
Von Juli 2005 bis April 2011 war Manfred Kremer Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung.
Herr Kremer: Was macht das BIBB für Sie zu etwas Besonderem? (1/3)
Ich will mich hier auf drei Aspekte beschränken.
Ich nenne als Erstes die außerordentliche Bandbreite der Aufgaben des BIBB. Die breit angelegte Bildungsforschung, die umfassende Berufsbildungsplanung, die vielfältigen Entwicklungs- und Serviceleistungen für Bundesregierung, Wirtschaft und Sozialpartner sowie die weitreichenden und umfänglichen Aktivitäten zur internationalen Kooperation in der beruflichen Bildung machen das BIBB zu einem weltweit anerkannten und einzigartigen Kompetenzzentrum für die berufliche Bildung. Zugleich erfordert diese Vielfalt einen ständigen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis und eine Konzentration auf aktuelle und bedeutsame Fragen von Berufsbildungspolitik und -praxis.
"Parlament der beruflichen Bildung" (2/3)
Das zweite Alleinstellungsmerkmal ist für mich die paritätische Beteiligung aller für die deutsche Berufsbildung Verantwortlichen – Bund, Länder und Sozialpartner – im Hauptausschuss des BIBB. Hermann Schmidt hat in seinem Beitrag darauf mit Blick auf die Berufsbildungsforschung bereits hingewiesen. Die durch das Berufsbildungsgesetz bestimmten Aufgaben des Hauptausschusses führen aber auch in allen anderen Arbeitsbereichen des Instituts zu einer umfassenden Beteiligung an der inhaltlichen Ausrichtung und den daraus folgenden Schwerpunktsetzungen im Aufgabenspektrum des Instituts. Nicht zuletzt sorgt dieses „Parlament der beruflichen Bildung“ dafür, dass alle für die Entwicklung der deutschen Berufsbildung grundlegenden Fragen und Probleme in der Regel im Konsens zwischen Sozialpartnern, Bund und Ländern entschieden werden.
"Kooperativer Föderalismus" (3/3)
Eine dritte, meines Erachtens zu wenig beachtete Besonderheit ist, dass, nicht zuletzt durch die gleichberechtigte Beteiligung der Länder im BIBB-Hauptausschuss, in der Berufsbildung – anders als in der Allgemeinbildung – die Zusammenarbeit von Bund und Ländern weitgehend komplikationslos verläuft. Ein Paradebeispiel für diesen „kooperativen Föderalismus“ ist die in einem eingespielten Verfahren zeitgleich und in ständiger Abstimmung erfolgende Modernisierung der Ausbildungsordnungen des Bundes und der länderübergreifend gültigen Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz (KMK) für die Berufsschulen. Am Gelingen dieser beispielhaften Kooperation sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BIBB wesentlich beteiligt. Sie organisieren und leiten nicht nur die zur Erarbeitung der Ausbildungsordnungen eingesetzten Arbeitsgruppen mit von den Sozialpartnern entsandten Praktikern und Experten. Sie sind auch das Bindeglied und die Vermittler zwischen diesen und den parallel arbeitenden Rahmenlehrplankommissionen der KMK.
Diese im BIBB konzentrierte und praktizierte Beteiligung der Länder und Sozialpartner an der Berufsbildungspolitik der Bundesregierung und der konkreten Gestaltung der Berufsbildung führt zu einer breiten Akzeptanz der beruflichen Bildung in Wirtschaft und Gesellschaft, die außerhalb des deutschsprachigen Raumes weltweit ihresgleichen sucht.
Herr Kremer: Was war die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit? (1/2)
Das war der durch die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes und die Bewertung des BIBB durch den Wissenschaftsrat (beides 2005) angestoßene umfassende Organisationsentwicklungsprozess, der meine gesamte Amtszeit stark geprägt hat.
Drei Monate vor meiner Ernennung zum BIBB-Präsidenten im Juli 2005 war das neue Berufsbildungsgesetz (BBiG) in Kraft getreten. An dieser umfassenden Novellierung war ich als Leiter der Unterabteilung „Berufliche Bildung“ im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) maßgeblich beteiligt. Im November 2005 legte dann der Wissenschaftsrat seinen Bericht über die Evaluation der wissenschaftlichen Arbeit des BIBB vor.
Die Bestimmungen des vormaligen Berufsbildungsförderungsgesetzes und damit auch die gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit des Instituts wurden in das neue BBiG integriert. Damit ging eine Stärkung des BIBB einher, die eine im Zuge der Novellierung des BBiG und der Evaluation des Wissenschaftsrates aufgekommene Diskussion über die Zukunft des BIBB, insbesondere auch der Berufsbildungsforschung im BIBB, beendete.
So hat das neue BBiG die Berufsbildungsforschung als gleichgewichtige Aufgabe neben die Entwicklungs-, Dienstleistungs- und Beratungsaufgaben gestellt und sie zugleich als Grundlage für die gesamte Aufgabenerledigung hervorgehoben und mit der in Erwartung der Bewertung des Wissenschaftsrates neuen Einrichtung eines Wissenschaftlichen Beirates als Element der Qualitätssicherung unterstrichen.
Auch der Wissenschaftsrat hat in seiner Bewertung die Bedeutung der Berufsbildungsforschung des BIBB für Politik, Praxis und Wissenschaft ausdrücklich betont und sie als „unverzichtbar“ bezeichnet. Zugleich hat er sie aber auch sehr kritisch bewertet und umfassende Empfehlungen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der BIBB-Forschung vorgelegt (vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum Bundesinstitut für Berufsbildung Bonn. Drs. 6891-05, Bremen 2005). Die 2005 neu eingesetzte Institutsleitung hat die Empfehlungen kritisch gewürdigt (siehe BWP 1/2006) und im Wesentlichen konstruktiv aufgegriffen.
Dies und weitere Kernelemente der BBiG-Reform sowie die fortlaufende Verringerung der Zahl des „Stammpersonals“ für die Erledigung der gesetzlichen Aufgaben, bei gleichzeitiger Erweiterung des Aufgabenumfangs (zum Beispiel im Bereich der internationalen Kooperationen, der Programme zur Förderung beruflichen Bildung und vieles mehr), wurden von meinem Stellvertreter und Forschungsdirektor, Prof. Dr. Reinhold Weiß, und mir als Chance gesehen, nicht nur die Berufsbildungsforschung, sondern das gesamte Aufgabenspektrum des BIBB auf den Prüfstand zu stellen und im Rahmen des gesetzlichen Auftrags neu zu positionieren und qualitativ weiterzuentwickeln.
Was war die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit? (2/2)
Die folgenden Jahre bis 2011 waren deshalb stark geprägt durch Schritt für Schritt gemeinsam mit dem Forschungsdirektor, den Führungskräften sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Gang gesetzte und vorangetriebene Prozesse einer breit und systematisch angelegten Qualitäts-, Organisations- und Personalentwicklung sowie einer langfristig ausgerichteten strategischen Aufgabenplanung.
Mit diesem Veränderungsprozess wurden alle Aufgaben, Leistungen, Strukturen und Abläufe in den Blick genommen und im Sinne des Konzeptes der „Lernenden Organisation“ der Rahmen und die Bedingungen für kontinuierliche Verbesserungen ständig weiterentwickelt.
Um dies zu illustrieren, kann ich hier nur stichwortartig die wesentlichen Elemente und Bausteine dieses Prozesses skizzieren, die wir bis 2011 umgesetzt oder in Gang gebracht haben:
• Ein 2006 in Kraft gesetztes Leitbild als Vision und langfristige Orientierung für Aufgabenplanung, Qualitäts-, Organisations- und Personalentwicklung und auf dieser Grundlage
• die Festlegung weniger, strategisch bedeutsamer Schwerpunkte für mittelfristige bedeutsame Kernthemen, an denen sich die aktuelle jährliche Aufgaben- und Forschungsplanung orientiert (strategische Aufgabenplanung).
• Ein an die Besonderheiten des BIBB angepasstes Qualitätsmanagement und regelmäßige Qualitätszertifizierungen (erste Zertifizierung 2010).
• Ein Personalentwicklungskonzept für Mitarbeiter und Führungskräfte als Grundlage für ein jährliches Personalentwicklungsprogramm und im Rahmen dieses Konzeptes entwickelte Auswahlverfahren, insbesondere für die Besetzung von Führungspositionen.
Führungskräfte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und nicht zu vergessen der Personalrat des BIBB – mussten für diese nicht immer schmerzfreien Veränderungsprozesse gewonnen werden. Das erforderte vor allem eine konstruktive Auseinandersetzung mit den meist fundierten kritischen Einwänden und überzeugende Lösungen, die dann aber auch gegen fortbestehende Widerstände durchzusetzen waren.
An dieser Stelle möchte ich den vielen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrem Engagement diese Entwicklungen erst möglich gemacht haben, nochmals ausdrücklich danken. Wie die erheblich positivere Bewertung des Wissenschaftsrates 2015 zeigte, hat es sich gelohnt.
Herr Kremer: Was war für Sie das wichtigste Berufsbildungsthema während Ihrer Amtszeit? (1/2)
Eine Kategorisierung nach Wichtigkeit kann dem Aufgabenspektrum meines Erachtens nicht gerecht werden. Die Themen Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit der Bildungswege haben aber für mich immer eine besondere Rolle gespielt. Sie betreffen das ganze Bildungssystem, vor allem auch die frühen Bildungsphasen bis zum Übergang in den Sekundarbereich II, zu dem auch die duale Berufsausbildung zählt (vgl. hierzu und zum Folgenden auch den Beitrag von Irmgard Frank und mir: Förderung von Durchlässigkeit: Instrumente und strukturelle Voraussetzungen, in: „40 Jahre BIBB – 40 Jahre forschen – beraten – Zukunft gestalten“ BIBB (Hrsg.), Bonn 2010).
Soweit es diese und die darauffolgenden Phasen im Tertiärbereich – Studium und berufliche Weiterbildung – betreffen, hat das BIBB immer die Position vertreten, dass höchste Qualifikationen und anspruchsvolle Kompetenzniveaus nicht nur über ein Hochschulstudium erreicht werden können und sollten, sondern – insbesondere in Deutschland – auch in einem systematisch ausgebauten System von Aus- und Weiterbildungsberufen beziehungsweise beruflichen Abschlüssen.
Die damit verbundene Forderung an die Bildungspolitik war, das breite Angebot an anspruchsvollen Ausbildungsberufen und Zusatzqualifikationen sowie das Angebot der gestuften Fortbildungsabschlüsse, die zu den höchsten Kompetenzniveaus führen, weiter auszubauen und zu einem gleichwertigen Angebot auch im Tertiärbereich zu entwickeln.
Deshalb hat das BIBB mit seinen Arbeiten die im Oktober 2006 von BMBF und KMK beschlossene Entwicklung eines „Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR)“ engagiert unterstützt. Wir sahen darin eine Chance, die Forderung nach der systematischen Entwicklung eines „zweiten Königswegs“ zu hohen und höchsten Kompetenzen neben dem Hochschulstudium weiterzuentwickeln und endlich umzusetzen. Ich habe zuletzt gemeinsam mit Hermann Schmidt 2017 in der BWP dargelegt, dass und warum wir diesen Versuch für vorläufig gescheitert halten (s. auch: Gleichwertigkeit der Berufsbildung im Deutschen Qualifikationsrahmen – Durchbruch oder Mogelpackung, BWP 4 2017, BIBB (Hrsg.)).
Da ich es besser nicht ausdrücken kann, begründe ich dies und die daraus folgenden Anforderungen an eine Reform, die den Fokus vom „gleichberechtigten Zugang beruflich Qualifizierter zum Hochschulstudium“ auf „eine echte Gleichwertigkeit weiterentwickelter Berufsbildungswege“ lenkt, mit einigen Auszügen aus diesem Aufsatz. Auswahl, Kürzungen und Hervorhebungen verantworte ich alleine.
Im DQR haben es die hochwertigen beruflichen Fortbildungsabschlüsse zwar auf die gleiche Stufe wie der akademische Bachelor geschafft, einige sogar auf die Stufe des Masters. Diese Platzierung im DQR hat aber in erster Linie zum Ziel, die Anerkennung dieser Qualifikationen in Europa zu erleichtern. In Deutschland soll dies aber weder den Zugang zu Bildungsgängen auf dem nächsthöheren DQR-Niveau eröffnen noch tarifrechtliche Auswirkungen haben. Man scheint sich darin einig zu sein, dass berufliche Bildung und Hochschulbildung zwar als „gleichwertig“ katalogisiert werden, aber nicht „gleich viel wert“ sein sollen.
Was war für Sie das wichtigste Berufsbildungsthema während Ihrer Amtszeit? (2/2)
Der sogenannte „Bologna-Prozess“ hat diese Wahrnehmung noch befördert und bestätigt, zumal es erklärtes Ziel deutscher Bildungspolitik war, eine höherwertige (!), beruflich verwertbare Alternative zum bewährten Konzept „Berufsausbildung und Berufserfahrung plus hochwertige berufliche Fortbildung“ anbieten zu können. Im Umkehrschluss bedeutet dies wohl, dass die „bewährten“ beruflichen Bildungswege geringwertiger sind und bleiben sollen.
Eine Alternative, die nicht nur Höherqualifizierung in erheblich größerer Breite ermöglichen und deutlich besser dem Bedarf des Beschäftigungssystems entsprechen würde, sondern auch der allseits betonten Gleichwertigkeit entspräche, wäre ein „Zwei-Säulen-Modell“, in dem der berufliche Bildungsweg bis hin zu den im DQR auf den Stufen 6 und 7 eingeordneten Fortbildungsabschlüssen in jeder Hinsicht einem Studium mit entsprechendem Hochschulabschluss gleichgestellt ist. Dabei sollten die Unterschiede zwischen akademischer und beruflicher Bildung oder durch gleiche Abschlussbezeichnungen nicht verwässert werden. Vielmehr sollten die jeweiligen Stärken der durch berufliche Bildung oder Studium erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen erhalten bleiben. Es soll aber gewährleistet sein, dass junge Leute bei ihrer Entscheidung für Berufsbildung oder Studium sicher sein können, dass beide Wege im Bildungswesen beim Zugang zu weiteren Bildungsgängen und in der Arbeitswelt, unter anderem auch in Tarifverträgen und betrieblichen Vergütungsregelungen, gleich behandelt werden.
Dazu bedarf es unter anderem auch in der Berufsbildung eines eigenen und einheitlichen Systems von qualitätssichernden Zertifizierungen und Standards, die dokumentieren, dass die erworbenen personalen und fachlichen Kompetenzen den Anforderungen der DQR-Niveaus entsprechen, denen sie zugeordnet sind. Das heißt, dass jeder Anbieter, jeder Lernort und jedes Bildungsangebot definierte Standards erfüllen muss, damit der Anspruch der Gleichstellung national und international gesichert bleibt. Das ist für die Berufsbildung nichts Neues. Entsprechende Standards werden zum Beispiel durch die landes- und bundesrechtlich geregelten Curricula und die Aus- und Fortbildungsordnungen des Bundes für alle berufliche Schulen, Betriebe und andere berufliche Bildungseinrichtungen klar definiert. In der Definition und/oder Durchsetzung von Qualitätsstandards für die Praxis der Berufsbildung an den verschiedenen Lernorten gibt es aber nach wie vor erhebliche Unterschiede. Ohne das Akkreditierungssystem im Hochschulbereich zu bewerten oder gar als Vorbild zu nehmen, muss festgehalten werden, dass ein ähnlich übergreifender Ansatz der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements in der beruflichen Bildung bisher fehlt.
Für die Sicherung und Zukunftsfähigkeit und der zu Recht starken Stellung der deutschen Berufsbildung im nationalen und in den europäischen Bildungs- und Beschäftigungssystemen ist eine derartige Reform zur Gleichstellung beruflicher Bildung unerlässlich. Das BIBB könnte dabei mit seiner Forschung, seinen Modellprogrammen und seiner Ordnungsarbeit wie bisher eine wesentliche und herausgehobene Rolle spielen.