Wahrnehmung von Berufen: Stimmen die Berufsbilder mit der Realität überein?
Timo Schnepf
Wie werden Berufe in der Bevölkerung wahrgenommen und stimmen diese Wahrnehmungen mit der Realität überein? Nach dem soziologischen Thomas-Theorem wird soziales Handeln nicht durch die Realität, sondern deren Wahrnehmung motiviert. Das bedeutet, auch die Wahrnehmung von Berufen hat Implikationen in vielen Bereichen der Gesellschaft. Auf der Individualebene ist die Wahrnehmung vor allem für die Berufswahl von Relevanz. Werden Tätigkeiten, Löhne oder Arbeitsbedingungen als attraktiv wahrgenommen, kann dies die Berufswahl positiv beeinflussen und die berufliche Passung verbessern. Sie spielt auch für den Vergleich mit anderen und somit das Wohlbefinden eine wichtige Rolle (meritokratisches Prinzip und Fairnesswahrnehmungen). Auf der Makroebene spielen Berufswahrnehmungen u. a. eine Rolle für die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften.
Mithilfe von repräsentativen Umfragen und prozessgenerierten Daten werden Wahrnehmungen, Stereotype und „Images“ von Berufen quantitativ erfasst. Diese „Wahrnehmungs-Daten“ werden anschließend mit Statistiken aus der Arbeitsmarktforschung verglichen (z. B. anhand des Mikrozensus, der BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragungen oder Statistiken der Bundesagentur für Arbeit).
Eine Studie befasst sich mit der Wahrnehmung von Berufseinkommen in Deutschland. Es wird untersucht, ob systematische Fehleinschätzungen von Berufseinkommen existieren und inwiefern diese Einschätzungen von spezifischen beruflichen Merkmalen oder den soziodemografischen Merkmalen der Schätzenden abhängen. Anhand eines neuartigen Studiendesigns der „Berufe in Deutschland“ Erhebung (2018) werden etwa 45.000 Lohneinschätzungen von 9.000 Befragten für 402 Berufe analysiert. Die Umfrage ist repräsentativ in Bezug auf die deutsche Wohnbevölkerung. Diesen subjektiven Wahrnehmungen werden die Lohnangaben der Befragten aus den BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragungen gegenübergestellt. Erste Ergebnisse zeigen, dass es systematische Fehlwahrnehmungen gibt, besonders im unteren und oberen Einkommensbereich, und dass diese Diskrepanzen von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden. Berufsmerkmale, wie die Berufsgröße, der Berufsbereich, das erforderliche Anforderungsniveau und die Zusammensetzung der Berufe (bspw. nach Geschlecht oder Ausländeranteil), erklären einen vielfach höheren Anteil der Fehlwahrnehmungen als bspw. das Geschlecht oder die sozio-ökonomische Position. Dennoch unterstützen die Ergebnisse die in der Literatur genannte Vermutung eines Referenzgruppeneffekts auf der Individualebene: Löhne aus Berufen, welche nahe der eigenen sozialen Position sind, werden stärker der mittleren Einkommensposition zugeordnet als objektiv „sozial entferntere“ Berufe.
Die nachfolgenden Studien untersuchen mithilfe von prozessgenerierten Daten, welche Berufe als Stereotype für bestimmte Tätigkeiten, Lohn- oder Arbeitsverhältnisse genutzt werden. Dazu werden anhand von bspw. YouTube-Kommentaren, Bundestagsprotokollen, Tagesschau-Transkripten oder Kununu-Ratings Berufsnennungen erfasst und kontextualisiert: In welcher Häufigkeit werden bestimmte Berufe genannt und in welchem thematischen Zusammenhang? Welche Diskurse prägen bestimmte Berufe?
Das Forschungsvorhaben möchte einen Beitrag leisten, Prävalenzen sowie Ursachen von Wahrnehmungen und Stereotypen besser zu verstehen. Die Ergebnisse können zu einem besseren gesellschaftlichen Verständnis von Berufen beitragen, sei es auf der Individualebene in der Berufsorientierung oder auf der polit-ökonomischen Ebene hinsichtlich sozialer Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt.