Die Reproduktion von Geschlecht im Berufswahlprozess: Welche Rolle spielen schulische und berufliche Kontexte?
Janina Beckmann
Das vorliegende Dissertationsvorhaben untersucht die Reproduktion von Geschlecht im Berufswahlprozess junger Menschen in Abhängigkeit von soziokulturellen und institutionellen Kontexten. In den vier Studien der Dissertation werden zwei Phasen des Berufsorientierungsprozesses in den Blick genommen: zum einen geht es um die Entwicklung beruflicher Aspirationen und zum anderen um den Verbleib im ersten gewählten Ausbildungsberuf.
Wie beeinflusst der schulische Kontext die Entwicklung geschlechtsspezifischer MINT-Aspirationen?
Der erste Teil der Dissertation befasst sich mit der Entwicklung geschlechtsspezifischer Berufserwartungen für MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) in der Sekundarstufe. Die Ergebnisse von Studie 1 zeigen, dass der schulische Kontext die Herausbildung geschlechtsspezifischer Berufsaspirationen durch soziale Referenzgruppeneffekte verstärken kann. So streben Schülerinnen seltener einen MINT-Beruf an, wenn ihre Mitschüler/-innen im Durchschnitt ein hohes Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten äußern. Studie 2 zeigt, dass Schüler/-innen in Abhängigkeit ihrer Fachwahl in der gymnasialen Oberstufe unterschiedlich starke MINT-Aspirationen entwickeln. Dabei lassen sich Geschlechterunterschiede in MINT-Aspirationen am Ende der Schulzeit allein auf ein geschlechtsspezifisches Wahlverhalten zurückführen. Die Wahl eines MINT-Fachs als Leistungskurs bzw. auf erhöhtem Anforderungsniveau verstärkt sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen die Herausbildung eines MINT-Berufswunsches.
Welche Rolle spielt das Geschlecht für die vorzeitige Beendigung von Ausbildungsverhältnissen?
Der zweite Teil der Dissertation beleuchtet den Verbleib in der ersten beruflichen Ausbildung. Die Ergebnisse aus Studie 3 zeigen, dass Jugendliche, die einen geschlechtsuntypischen Ausbildungsberuf wählen, diesen häufiger vorzeitig beenden. Die Auswertung der selbstberichteten Abbruchgründe zeigt: Während für Frauen in Männerberufen eine mangelnde soziale Integration ausschlaggebend ist, sind für Männer in frauendominierten Berufen unerfüllte Berufswünsche und falsche Erwartungen zentral. Es gibt aber keine geschlechtsspezifischen Abbruchunterschiede hinsichtlich der fachlichen Anforderungen im Beruf und der Unzufriedenheit mit dem (zukünftigen) Einkommen. Zuletzt zeigt Studie 4, dass unerfüllte Berufswünsche (berufliche Kompromisse) hinsichtlich der Geschlechtstypik des Berufs die Abbruchwahrscheinlichkeit erhöht. Demnach brechen Auszubildende ihre Ausbildung umso wahrscheinlicher vorzeitig ab, je weiter der Ausbildungsberuf vom Wunschberuf hinsichtlich der Geschlechtstypik abweicht (unabhängig davon, ob der Beruf „geschlechtstypischer“ oder „geschlechtsuntypischer“ ist als der Wunschberuf).
Insgesamt zeigen die Ergebnisse dieser Dissertation, dass Geschlecht eine zentrale Rolle im Berufswahlprozess junger Menschen spielt. Dabei bestimmen die sozialen und institutionellen Kontexte, inwieweit geschlechtsspezifische Wünsche und Entscheidungen aufrechterhalten werden. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass Maßnahmen zur Verringerung der Geschlechtersegregation sowohl in der Schulzeit als auch in der Ausbildung ansetzen sollten.
Dissertationsschrift
Beckmann, Janina (2022). Gendered Career Decision-Making: Investigating Contexts of Reproduction. Dissertation, Universität zu Köln.
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Veröffentlichungen daraus
Beckmann, J. (2023) Why do they leave? Examining dropout behaviour in gender-atypical vocational education and training in Germany, Journal of Vocational Education & Training
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Beckmann, J, Wicht, A. & Siembab, M. (2023). Career Compromises and Dropout from Vocational Education and Training in Germany, Social Forces, 102 (2), 658– 680.
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Beckmann, J. (2021). Gendered career expectations in context: the relevance of normative and comparative reference groups. British Journal of Sociology of Education, 42 (7), 1–19.
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