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"Unsere Strategie zeigt eindeutig Wirkung"

Interview mit Felipe Morgado, Superintendent für Berufs- und Hochschulbildung im brasilianischen Nationalen Dienst für Industrielle Berufsbildung SENAI, über Frauen in industriellen Berufen in Brasilien

14.02.2025

6 junge Frauen stehen in Siegerinnen-Pose vor brasilianischer Flagge
SENAI-Teilnehmerinnen bei den WordSkills in Lyon

Im Jahr 2024 hatte SENAI rund 3,13 Millionen Teilnehmende bei seinen Berufsbildungsangeboten. Wie viele davon waren Frauen?

Derzeit sind 38 % unserer Teilnehmenden weiblich. In den Online-Kursen ist der Frauenanteil mit 51 % deutlich höher. Es gibt aber natürlich immer noch sehr männerdominierte Bereiche, in denen der Anteil der weiblichen Teilnehmenden deutlich unter den durchschnittlichen 38 % liegt. So sind haben wir beispielsweise in der Informationstechnologie, im Bauwesen und in der metallverarbeitenden Industrie einen geringeren Frauenanteil.

Ein Vergleich unserer Zahlen mit den Beschäftigtenzahlen in der Industrie zeigt jedoch eine wachsende Tendenz im Engagement von SENAI für die Berufsausbildung von Frauen. Generell liegt der Frauenanteil in der Industrie bei 32%. Auch hier gab es in den letzten Jahrzehnten eine positive Entwicklung. Im Jahr 2008 waren 24 % der formell Beschäftigten in der Industrie Frauen; bis 2023 wird dieser Anteil auf 32 % ansteigen. Die 38 % bei SENAI sind auch auf unsere engagierten Bemühungen innerhalb der Organisation zurückzuführen.

3 junge Frauen in Arbeitskleidung stehen vor einem Triebwerk und schauen zusammen in ein Dokument
Fachkräfte für die Energiewende in einem Windpark im Bundesstaat Bahia

Frauen interessieren sich vor allem für Berufe in den Bereichen IT, Lebensmittel und Getränke, Arbeitssicherheit, Logistik und Verwaltung.

Welche Unterschiede zeigen Männer und Frauen bei der Kurswahl? An welchen Berufen sind Frauen am meisten interessiert?

Bei SENAI interessieren sich die Frauen am meisten für Berufe in den Bereichen IT, Lebensmittel und Getränke, Arbeitssicherheit, Logistik und Verwaltung, gefolgt von Metallverarbeitung, Bekleidung und Umweltberufen. Männer belegen hauptsächlich Ausbildungsgänge in den Bereichen Ingenieurwesen, IT, Automobilindustrie und Elektroinstallation. Es ist daher möglich, dass der Frauenanteil in einigen Berufen in den Betrieben in Zukunft steigen wird, weil Frauen auch in diesen Bereichen qualifiziert sind. Allerdings gibt es auch Unterschiede in ihren Bedürfnissen und Motiven. So zeigt sich beispielsweise, dass die Mehrheit der Männer, die an den SENAI-Qualifizierungsprogrammen teilnehmen, berufstätig sind, also beruflich aufsteigen und mehr verdienen wollen. Die Mehrheit der Frauen hingegen ist arbeitslos. Sie nehmen an den Kursen teil, um überhaupt erst in den Arbeitsmarkt einzusteigen oder wieder Fuß zu fassen.

Funktioniert das?

Im Prinzip ja. Laut aktuellen Zahlen liegt die Beschäftigungsquote der SENAI-Absolventen allgemein bei 86 %, bei Frauen hingegen nur bei 64 %. Gleichzeitig sind die Frauen aber im Durchschnitt besser ausgebildet: Die durchschnittliche Schulzeit für Personen ab 25 Jahren lag 2023 bei 9,9 Jahren. Von 2022 bis 2023 blieb dieser Durchschnitt stabil. Bei den Frauen lag die durchschnittliche Anzahl der Schuljahre bei 10,1 Jahren, bei den Männern bei 9,7 Jahren. Es gibt also noch viel zu tun in der Gesellschaft insgesamt, bevor in Brasilien tatsächlich Chancengleichheit für Frauen auf dem Arbeitsmarkt herrscht.

SENAI hat immer versucht, mehr Frauen auszubilden. Damit wollen wir die Industrie ermutigen, mehr Frauen in die Produktionsprozesse einzubeziehen.

Was genau hat SENAI unternommen, um den Anteil der Frauen bei den Auszubildenden zu erhöhen?

Seit 26 Jahren haben wir eine Strategie namens "Programa SENAI de Ações Inclusivas" (PSAI). Hier gibt es die Bereiche Vielfalt und Integration. Man kann sagen, dass die Förderung von Vielfalt mittlerweile Teil der kulturellen DNA von SENAI ist. Positive Maßnahmen zur Verhinderung von Diskriminierung wurden und werden hier durchgeführt. SENAI hat immer versucht, mehr Frauen auszubilden, als die Industrie nachfragt. Damit wollen wir die Industrie ermutigen, mehr Frauen in die Produktionsprozesse einzubeziehen. Wir glauben auch, dass die niedrigeren Zugangsschwellen bei den Online-Ausbildungsgängen seit ein paar Jahren dazu beigetragen haben, dass nun auch mehr Frauen an den Präsenzkursen teilnehmen. Und dann haben sich natürlich auch allgemeine soziale Bewegungen in Bezug auf Vielfalt und Gleichstellung positiv auf die Rolle der Frauen im Arbeitsleben ausgewirkt, insbesondere in der Industrie.

In einigen von Männern dominierten Berufsfeldern haben wir auch Kurse, die sich ausschließlich an Frauen richten. Und wir bieten Sensibilisierungsmaßnahmen an, z. B. für multinationale Unternehmen in der Automobilbranche. Diese Unternehmen werden von ihren Headquarters sehr ermutigt, eine positive Genderpolitik zu betreiben. SENAI bietet nicht nur Schulungen für Auszubildende, sondern auch für Führungskräfte zum Umgang mit Diversität im Allgemeinen und Gender-Diversität im Besonderen an. Und das nicht nur in Brasilien, sondern für Unternehmen in ganz Lateinamerika.

Außerdem haben wir gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein Projekt im Rahmen der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung. Dieses Projekt zielt unter anderem darauf ab, die Beteiligung von Frauen in traditionell von Männern dominierten Branchen sicherzustellen, hier insbesondere in den Bereichen Erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft und Bioökonomie. Nach der Ausbildung waren 72,1 % der Teilnehmenden in Arbeit. Zudem waren 43,6 % auch in ihrem Ausbildungsbereich tätig – das zeigt eine bemerkenswerte Wirksamkeit dieser Kurse für die Arbeitsmarkteingliederung von Frauen.

Gleichstellung findet bei uns in vielen Bereichen bereits ohne zusätzliche Anstrengungen statt. Das heißt natürlich nicht, dass wir schon alles erreicht haben.

Neben der nationalen Strategie von SENAI gibt es auch auf regionaler Ebene Initiativen zur Frauenförderung. Zum Beispiel im Bundesstaat Espírito Santo. Der Industrieverband FINDES hat dort einen Rat gegründet, der sich für die Förderung von Frauen in industriellen Berufen einsetzt. Bis 2035 sollen 50 % der SENAI-Absolventinnen und -absolventen in Espírito Santo Frauen sein. SENAI bietet unter anderem eine Reihe von kostenlosen Kursen für Frauen an und unterstützt sie beim Berufseinstieg und der beruflichen Entwicklung.

Allerdings muss man dazu auch wissen, dass der Branchenverband in Espírito Santo von einer Frau geleitet wird und dass sie eine wichtige Rolle bei diesen Maßnahmen spielt. Man sieht also, wie sehr die positive Entwicklung immer auch mit den beteiligten Menschen zu tun hat.

Seid Ihr mit SENAI auf dem richtigen Weg?

Oh ja! Unsere Strategie zeigt eindeutig Wirkung. Wir haben die Phase der Überzeugungsarbeit hinter uns gelassen, und die Entwicklung in Richtung Gleichstellung findet in vielen Bereichen bereits ohne zusätzliche Anstrengungen statt. Das heißt natürlich nicht, dass wir schon alles erreicht haben. Ein schönes Erlebnis hatte ich aber zum Beispiel bei den WorldSkills in Frankreich letztes Jahr. Es gab einen Wettbewerb im Bereich Wartung von Schwerfahrzeugen. Nach den gängigen Klischees würde man hier viele starke Männer erwarten, da es ja um Traktoren und andere schwere Geräte geht. Aber am Ende war eine junge Frau die einzige, die in bei dieser Aufgabe alle Fehler gefunden hat.

Vielen Dank für das Interview, Felipe! Bleibt zu hoffen, dass wir in unserem nächsten Interview in ein paar Jahren gar nicht mehr groß auf solche positiven Beispiele eingehen müssen – weil dann Gleichstellung wirklich zur Normalität geworden ist.

Der brasilianische SENAI (Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial) ist die größte Berufsbildungseinrichtung in Lateinamerika. Es handelt sich um eine private, gemeinnützige Einrichtung, die zahlreiche Ausbildungsangebote im Bereich der Industrie bereithält. Ziel des 1942 gegründeten SENAI ist die Förderung der beruflichen Ausbildung, der Innovation und des Transfers industrieller Technologien, um die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Industrie zu steigern. SENAI und BIBB arbeiten seit 1998 auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung zusammen.

SENAI website