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Das Berufsbildungssystem in Kolumbien - Status quo und Perspektiven

Ein Interview mit Juan Pablo Castro und Jorge Cruz

Der Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit des SENA, Juan Pablo Castro, und Jorge Cruz, Koordinator für die duale Ausbildung im SENA, sprechen über die Implementierung des dualen Systems in Kolumbien und die Kooperation mit dem BIBB.

Jorge Cruz und Juan Pablo Castro im Gespräch

BIBB: Welchen Herausforderungen sieht sich das kolumbianische Bildungs- und Berufsbildungssystem derzeit hauptsächlich gegenüber?

Juan Pablo Castro: Aus Sicht des SENA besteht die größte Herausforderung für das kolumbianische (Berufs-) Bildungssystem ohne Zweifel in der Einbeziehung der Unternehmen in den Ausbildungsprozess. Die traditionelle Ausbildung, die vom SENA angeboten wird, setzt sich aus einer theoriebasierten und einer praxisorientierten Komponente zusammen. SENA hat die Aufgabe, den direkten Kontakt mit den Unternehmer/-innen zu pflegen und zu erreichen, dass sie ihre Auszubildenden sinnvoll einsetzen, denn diese sind ihr Humankapital. Zudem muss bei den Unternehmer/-innen das Bewusstsein geschaffen werden, dass ihre Auszubildenden auch zu einer höheren Produktivität des Unternehmens und besseren Rentabilitätswerten beitragen. Neben einer stärkeren Zusammenarbeit mit den Unternehmen besteht eine weitere Herausforderung darin, eine Veränderung der Unternehmenskultur in Kolumbien zu bewirken.

Jorge Cruz: Bei der Arbeit an der Konzeptionierung und der methodischen Gestaltung eines dualen Ausbildungssystems gibt es mehrere Herausforderungen. Zum einen gilt es, die Berufsausbildung stärker an der realen Praxis auszurichten und mehr Personen von Unternehmensseite zu gewinnen, die bereit sind, als Ausbilder zu agieren und sich am SENA für die Ausbildertätigkeit zu qualifizieren. Des Weiteren muss das Prinzip des Unternehmens als Mitausbilder bekannt gemacht und letztendlich die duale Ausbildung institutionalisiert werden.

BIBB: Wie würden Sie das Bild der Berufsausbildung in Kolumbien beschreiben?

Juan Pablo Castro: Der SENA ist die größte Ausbildungseinrichtung in Kolumbien und nach dem SENAI in Brasilien die zweitgrößte in Lateinamerika, und das nicht nur, was die Anzahl der Ausbildungsplätze und Abschlüsse angeht, sondern auch hinsichtlich der regionalen Abdeckung. Der SENA blickt auf eine Erfahrung von fast 60 Jahren zurück und ist in allen 32 Departamentos in Kolumbien sowie in der Hauptstadt Bogotá vertreten. Insgesamt verfügt der SENA nicht nur über 117 Ausbildungszentren, sondern auch über mehr als 3.000 Ausbildungsstätten und 180 mobile Klassenzimmer, die 98 % des kolumbianischen Territoriums erreichen. All dies trägt dazu bei, dass das Bild der Berufsausbildung in Kolumbien in der Hinsicht gut ist, als dass alle Kolumbianer/-innen Zugang zur Berufsausbildung haben, die sich zudem durch eine hohe Qualität auszeichnet, da die Ausbilder/-innen des SENA in der Escuela Nacional de Instructores, der Nationalen Schule für Ausbilder/-innen, geschult werden. Präsident Santos selbst betonte zuletzt, dass der SENA über die öffentliche Arbeitsagentur [Agencia Pública de Empleo] und die vom SENA selbst angebotenen Unternehmensgründungs und -führungsmaßnahmen zur Beschäftigungsmaschine des Landes werden muss. Trotzdem steht die Berufsausbildung in Kolumbien vor der Herausforderung, ihr Ansehen und ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu verbessern und somit im Vergleich zur Hochschulbildung einen höheren Stellenwert zu erreichen. Die Tatsache, dass der SENA nicht nur Ausbildungsmöglichkeiten bietet, sondern im Anschluss auch die Chance auf Weiterbeschäftigung, trägt dazu bei, dass die technische Berufsausbildung in Kolumbien am Image gewinnt. Die Berufsbildung bzw. eine entsprechende Beschäftigung stellt eine Möglichkeit dar, eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen.

BIBB: Was motiviert Kolumbien zur Ausbildung im dualen Modell?

Jorge Cruz: Die wichtigste Motivation besteht in der hohen Relevanz der dualen Ausbildung. Relevanz bekommt das duale System dadurch, dass die Anforderungen des Markts berücksichtigt werden. Weitere Gründe, die für das duale System sprechen, sind die Vorteile die sich für die Auszubildenden ergeben und die Verbesserung der Beschäftigungsquote.

Juan Pablo Castro: Unsere Motivation besteht darin, dass unsere Auszubildenden unter realen Bedingungen im Unternehmen ausgebildet werden und nach Abschluss ihrer Ausbildung die Möglichkeit haben, übernommen zu werden. Für die Unternehmen besteht die Motivation darin, dass die Auszubildenden im dualen Modell die Produktivität des Unternehmens steigern und das Unternehmen, während es in seine personelle Zukunft investiert, im Auszubildenden zugleich eine Arbeitskraft hat.

Deutschland ist nicht nur Vorreiter, was die duale Ausbildung selbst angeht, sondern auch in Bezug auf die internationale Beratung im Bereich der Berufsbildung.

BIBB: Warum haben Sie sich im Bereich der Berufsausbildung für eine Beratung von deutscher Seite entschieden?

Juan Pablo Castro: Für uns liegt das auf der Hand. Das Ausbildungsmodell stammt ursprünglich aus Deutschland. Wir wollen mit den weltweit Besten zusammenarbeiten und mit jenen, die die meisten Erfahrungen mit dem System haben. Deutschland ist nicht nur Vorreiter, was die duale Ausbildung selbst angeht, sondern auch in Bezug auf die internationale Beratung im Bereich der Berufsbildung. Um die duale Ausbildung in Kolumbien zu etablieren, wollen wir auf eine Allianz mit den Besten setzen und auf internationale Vorbilder verweisen können.

BIBB: Inwieweit passt das deutsche Modell der dualen Berufsausbildung Ihrer Ansicht nach besonders gut zur Situation in Kolumbien und wo sind Anpassungen erforderlich?

Jorge Cruz: Für unser duales Modell haben wir zahlreiche Elemente des deutschen Modells der dualen Berufsausbildung herangezogen, aber unsere Unternehmenskultur ist definitiv ganz anders. Ein Aspekt, der an die Situation in Kolumbien angepasst wurde, ist die Einführung der Rolle des Mitausbilders für Unternehmen. In Deutschland gibt es überbetriebliche Berufsbildungsstätten für Auszubildende aus kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in ihrem Betrieb nicht alle Ausbildungsinhalte vermittelt bekommen können. Hier in Kolumbien hingegen arbeiten wir im dualen Modell von vornherein nur mit großen Unternehmen zusammen, weil diese in der Lage sind, Ausbilder/-innen zu stellen, und zudem über Lernorte verfügen.

Zusammenarbeit mit dem BIBB/mit weiteren Akteuren

BIBB: Warum war für Kolumbien bei der Zusammenarbeit mit dem BIBB das Thema der „Forschung in der Berufsausbildung“ (einschließlich Themen wie die Erstellung von Datenreports und Kosten-Nutzen-Analysen) von Anfang an besonders wichtig?

Jorge Cruz: Die Forschung ist eine unverzichtbare Grundlage für die ständige Weiterentwicklung eines Ausbildungssystems. Von Kolumbien aus blicken wir in Lateinamerika auf die Forschungen des Interamerikanischen Forschungs- und Dokumentationszentrums für Berufsbildung der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, CINTERFOR (Centro Interamericano para el Desarrollo del Conocimiento en la Formación Profesional). Europa nimmt im Bereich der Berufsbildungsforschung eine Vorreiterrolle ein. Hier leistet insbesondere das BIBB eine äußerst gute und sinnvolle Arbeit. Die Durchführung von Untersuchungen und Erhebungen in Bezug auf Kernaspekte oder ganze Prozesse liefert uns Erkenntnisse und ermöglicht uns auf dieses gewonnene Wissen aufzubauen. Seit Beginn unserer Zusammenarbeit war klar, dass die Begleitung aller Veränderungsprozesse der Berufsausbildung im SENA auf Daten und Analysen beruhen muss.

Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit des SENA: Juan Pablo Castro

BIBB: Warum ist für Kolumbien (derzeit) das Thema der Institutionalisierung/Kontrolle der Berufsausbildung besonders wichtig, was auch die Schaffung eines Rechtsrahmens für die duale Ausbildung in Kolumbien einschließt?

Jorge Cruz: Die Institutionalisierung des dualen Ausbildungsmodells in Kolumbien ist von großer Bedeutung, da wir aktuell feststellen müssen, dass das Konzept der dualen Ausbildung nicht allseits bekannt ist, wenn wir die Verbindung zwischen Unternehmen und Ausbildungszentrum herstellen. Alle sollten darüber Bescheid wissen! Dies erfordert ein hohes Maß an Informationen und Sensibilisierung. Die Lernumgebungen sind noch sehr stark durchstrukturiert und festgelegt. Alles wäre besser, wenn das duale Modell landesweit institutionalisiert wäre und der SENA dieses stärker verbreiten würde. Zudem brauchen wir die Institutionalisierung und rechtliche Verankerung, um unsere dualen Projekte langfristig zu etablieren.

Juan Pablo Castro: Die Generaldirektion des SENA steht vor der Herausforderung, die duale Ausbildung zu institutionalisieren. In dieser Hinsicht konnten bereits große Fortschritte verzeichnet werden. Die Aufgabe besteht darin, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen und der Verfassung eines Dokuments durch den Consejo Directivo des SENA, das als Mandat und gültiger Mechanismus im SENA agiert. Der Consejo Directivo ist der Hauptausschuss für Berufsbildung im SENA. Mitglieder des Consejo Directivo sind u.a., neben der Leitung des SENA, die Minister für Bildung, Arbeit sowie Handel und Industrie, die nationalen Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, die Kirche, Wissenschaftsvertreter/-innen und andere Institutionen.  Eine gesetzliche Regelung ist grundlegend, um ein Umdenken in der Zivilgesellschaft sowie auch in den Unternehmen, im SENA und in der Regierung des Landes zu bewirken. Der SENA ist eine sehr große Einrichtung und der institutionelle Wandel impliziert auch, das Thema in alle Ausbildungszentren des SENA zu tragen.

BIBB: Was hat sich für den SENA bei der bisherigen Zusammenarbeit mit dem BIBB als besonders nützlich/interessant erwiesen?

Juan Pablo Castro: Am nützlichsten und interessantesten sind vor allem der Erfahrungsaustausch mit dem BIBB im Bereich der dualen Ausbildung in Deutschland. Außerdem hat uns die Beratung durch das BIBB beim Aufbau des Forschungszentrums SENNOVA geholfen. Das SENNOVA fördert die Forschung und Entwicklung der Berufsausbildung im SENA. In Bezug auf wissenschaftliche Forschung waren zudem die Zusammenarbeit mit der Beobachtungsstelle des SENA für Arbeit und Beschäftigung [Observatorio Laboral y Ocupacional] und der Wissenstransfer zur Erhebung von Daten und Erstellung von Analysen von großem Nutzen. Äußerst hilfreich war auch die Implementierung der Pilotprojekte für die duale Ausbildung, die uns weitere Fortschritte auf dem Weg zu einer Antwort auf die Notwendigkeit eines auf unsere Bedingungen angepassten – „tropikalisierten“ – Modells ermöglichen. Ein solches Modell ist an die kolumbianischen Bedingungen angepasst und sieht vor, dass die Unternehmen sagen, was sie brauchen und nicht wir die Richtung vorgeben. Außerdem ermutigen wir die Auszubildenden über erfolgreiche Erfahrungen zu berichten, bei denen die Ausbildung in einer Beschäftigung mündete.

BIBB: Welche Ergebnisse sind für Sie im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem BIBB besonders wichtig?  

Juan Pablo Castro: Neben den bereits genannten Aspekten wie dem Aufbau eines Forschungszentrums und der Initiierung von Pilotprojekten waren für uns die Unterstützung bei der Entwicklung des ersten Datenreports zur Berufsausbildung, sowie die Workshops zur Berufsbildungsforschung in Deutschland und Kolumbien mit dem Observatorio Laboral y Ocupacional des SENA sehr wichtig. Von besonderer Bedeutung war zudem die intensive Begleitung bei der Erarbeitung eines dualen Modells für die Berufsausbildung in Kolumbien.

BIBB: Haben Sie neben der intensiven Zusammenarbeit mit dem BIBB noch weitere deutsche Partner im Bereich der Berufsausbildung? Wie sehen die anderen Perspektiven der Zusammenarbeit aus?

Juan Pablo Castro: Tatsächlich haben wir mehrere deutsche Partner, mit denen wir schon länger zusammenarbeiten. Zum Beispiel kooperieren wir mit dem Unternehmen Festo im Bereich der Automatisierung und der industriellen Prozesse, mit Bosch Rexroth zu Hydraulik und Automatisierung, mit der Deutschen Botschaft sowie mit der Stiftung FunCyTCA, die eine Reihe deutscher Unternehmen in sich vereint. Genauer gesagt stehen wir kurz vor der Unterzeichnung eines Abkommens mit dieser Stiftung. Auch mit der GIZ arbeiten wir bei der Schaffung des Fondo Emprender zusammen, dessen Schwerpunkt auf der Schaffung von „grünen Arbeitsplätzen“ liegen soll. Wir sehen der weiteren Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen positiv entgegen, weil wir noch viel lernen müssen. Von den deutschen Unternehmen wollen wir erfahren, wie Präzision, Qualität und Unternehmenskultur in der Berufsausbildung aussehen. Auch mit der Deutsch-Kolumbianischen Handelskammer in Bogotá stehen wir in engem Kontakt.

Der SENA arbeitet daran, ein größeres Bewusstsein für die Vorteile der dualen Ausbildung und die Chancen die sich daraus ergeben zu schaffen.

Perspektiven

BIBB: Wie wurden die Entwicklungen/Veränderungen in der Berufsausbildung in Kolumbien von den Akteuren der Berufsausbildung und von der Gesellschaft angenommen/akzeptiert?

Jorge Cruz: Es ist sichtbar, spürbar und auch absehbar, dass der SENA daran arbeitet, ein größeres Bewusstsein für die Vorteile der dualen Ausbildung und die Chancen die sich daraus ergeben zu schaffen. Heutzutage wird die Berufsausbildung in Kolumbien zunehmend als eine berufliche Perspektive wahrgenommen, die in einer Beschäftigung mündet. Der traditionellen Berufsausbildung des SENA, die nicht auf dualen Strukturen basiert, haben wir viele Erfahrungen zu verdanken, was die engere Zusammenarbeit mit den Unternehmen und die Betonung der Vorteile der dualen Ausbildung in den Ausbildungszentren angeht. Der Aspekt der Schulung von Ausbilder/-innen des SENA wurde überarbeitet, da jetzt auch die betrieblichen Ausbilder aus den Unternehmen in der Escuela Nacional de Instructores (ENI) des SENA ausgebildet werden. Was die Jugendlichen angeht, die an dualen Ausbildungsprogrammen teilnehmen, lässt sich eine weitaus höhere Motivation erkennen. Gleichermaßen liegen die Abbrecherquoten bei der dualen Ausbildung deutlich unter denen bei der traditionellen Ausbildung.

BIBB: Welchen Anteil/welche Bedeutung in Bezug auf das gesamte kolumbianische Bildungsspektrum/im Bildungssystem Kolumbiens sollte die duale Ausbildung in Zukunft einnehmen/gewinnen?

Jorge Cruz: Die duale Ausbildung sollte auch auf der Stufe der Tecnólogos (Technologen) eingeführt werden. Bisher gilt das Angebot nur für die Stufen Auxiliar/Operario (Maschinen- und Anlagenbediener) und Técnico (Techniker). Die Ausbildungsprogramme für Tecnólogos dauern 24 Monate, die Ausbildungsprogramme für Técnicos 12 bis 15 Monate, die Programme für Auxiliar/Operario 6 Monate. Das Thema der Gesetzgebung ist sehr starr, daran wollen wir aber arbeiten. Das ist eine große Herausforderung, damit die duale Ausbildung auch auf der Stufe der Tecnólogos umgesetzt werden kann.

BIBB: Welche weiteren Elemente der dualen Ausbildung sollten angewendet/eingeführt werden?

Jorge Cruz: Neben Aspekten wie der Unternehmenskultur und der Institutionalisierung des Modells müssen wir einen kulturellen Wandel in unserer Institution und im Wirtschaftssektor erreichen.

Juan Pablo Castro: Wir sehen unserer Zusammenarbeit mit dem BIBB in den kommenden vier Jahren mit großen Erwartungen entgehen. Für uns ist das eine wunderbare Möglichkeit, die Vorteile der dualen Ausbildung auch in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Es ist wichtig, dass Elemente wie die Stärkung der Rolle von Unternehmen als Mitausbilder und die Institutionalisierung mittels eines rechtlichen Rahmens oder Mandats umgesetzt werden. Unsere Allianz mit dem BIBB wird uns bei diesem gesamten Prozess sehr helfen und wir sind für die durchgehend gute Beziehung und intensive Zusammenarbeit dankbar, da all dies dazu beiträgt, die Qualität der Berufsausbildung in Kolumbien zu verbessern und die Beschäftigungsfähigkeit sowie Rentabilität zu steigern.

Das Interview führte Diana Cáceres-Reebs